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Schubert das Schaf. Eine Prosa

·1701 Wörter

Personen und ihre Darsteller/innen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Schafen sind rein zufällig.

Nur Musik kann zum Klingen bringen, was Klingeln den Türen zu bereiten vermögen. Musik – ein Musenwerk der Überkunst, unsagbar unbegreiflich unrealistisch. Eine Welt der Utopie und des Wahnsinns – eine Wahnsinnswelt. In dieser und jener der Welten lebe ich, bin ich, verlebe ich meine welterlesene Existenz. Ich. Ich. Ich. Ich.

Und wer bist du? In dir drin sicher auch ein Schaf. Aber nicht so schafig wie ich. Ich schreibe den ganzen Tag – über mich – und fühle mich wohl dabei. Schreiben, schreiben, schreiben. Glück, Glück, Glück. Wie du siehst, muss ich erstmal reinkommen, ins Schreiben, denn ich lüge hier: in Wahrheit habe ich über zwanzig Jahre lang nichts mehr geschrieben, und ich habe keine Ausrede. Bis auf die Einsamkeit – doch gerade die ist es doch, wegen der man schreibt. Man schreibt sich die Einsamkeit weg, im Gespräch mit sich selbst.

Ich bin Schubert, 33 Jahre alt, ein hässliches Schaf, Mutter eines 8-jährigen Lammes, in einer Beziehung mit einem 17 Jahre älteren Vogel, und ich schreibe, schreibe an gegen die Schauder des Verfalls.

Jeden Tag erschrecke ich, wenn ich in den Spiegel sehe. Mein Fell wird immer krauser, grauer und sogar weiß, an manchen Stellen. Niemand würde mehr behaupten, ich sei ein blondes Schaf. Meine Brüste werden immer schlaffer und platter. Wenn ich einen Pullover anhabe, sieht man sie gar nicht mehr von der Seite. Vielleicht halten mich die anderen sogar für einen Bock, wer weiß?

Ich erinnere mich an nichts, habe ich das Gefühl. Nicht einmal an die Momente, die mir wichtig vorkommen: die Geburt meines Lammes, meine Hochzeit, meine Scheidung, Streits und die Verteidigung meiner Bockterarbeit. Mein Leben kommt mir vor wie ein einziges Trauma, und das scheint meine Krankheit zu sein. Das Einzige, was ich konstant erinnere, ist Sex. Das Gefühl des Eingedrungenwerdens, der Punkt, der mich fallen lässt in eine unendliche Kluft des Hochgefühls, die Männerhände und seine Nase, die Vogelküsse an meinen Brüsten, die mir in diesen Momenten riesig groß vorkommen, und meine Vagina, die sich aufzublähen scheint wie ein rosa Ballon und jeden Moment zerplatzt. Ich möchte das immerzu und ständig erleben, immer wieder neu, und frage mich, ob ich ein sehr bedürftiges Schaf bin, oder ob 33-Jährige das so an sich haben.

Ich bin Schubert das Schaf und ich will anschreiben gegen die Langeweile, die uns der Literaturbetrieb ins Gesicht gähnt, gegen vermeintlich gute Literatur, gegen Heuchelei und Show, gegen die ganze Fassade. Ich möchte keine gute Literatur schreiben, sondern Literatur, littéralement: mich selbst exponieren.

Mit der Waffe des Wortes ins Gesicht schlagen all derer, die ihr Gesicht verstecken, bis die Fassade bricht und die Fratzen zum Vorschein kommen.

Schubert ist ein altes Sprichwort, das heißt: Schaf.

Der eigentliche Grund zum Schreiben ist nicht, die Welt verbessern zu wollen, sondern die Desillusion zu ästhetisieren. Horror wird als Kunst verkauft, Liebe sowieso, und Krieg den Schaulustigen Tag für Tag ins Gehirn geschleust. Aber die Desillusion, die Resignation und die Depression, die unsere Welt beherrschen, werden dermaßen verdrängt, dass einzig die Atombombe sie eines Tages zu zerstören vermag, die ein Spiegel des menschlichen Narzissmus ist.

Auch ich bin eine Narzisstin. Hier schreibe ich über mich, aus meiner Sicht, und dich, Leserin, interessiert es einen Dreck, außer, es hat irgendetwas mit dir zu tun.

Ich schreibe:

Das Erlebnis der Entsinnung

Ich entsinne mich, 
bis alle Sinne abgeschüttelt sind, 
in die Ente, 
die sie begierig frisst. 

Pur 
fühle ich mich jetzt 

frei von allen Qualen 
so richtig ent-
sinnt. 

Das Leben ist eine pure Enttäuschung. 
Der Storch, ein Rassist 

Ich stolziere durchs Gras 
und suche nach Fraß. 
Schlangen, Würmer, Spinnen, 
solche Sachen. 

Was du machen? 
Mich auslachen? 

Gehe kacken 
in deine Schabracken 
und lass mich macken 
meine Sacken! 
Die Innere Welt des Hasen 

Ein großer, dicker Hase 
mit einer knuffigen, rosa Nase 
(Hasan heißt er) 

lebt in einem Kabuff 
im Suff. 

Er trinkt tag und nacht 
zwölf Kilo Bier 
und frisst zehntausend Liter 
Gewitter. 

Hasan lebt allein – 
denn seine Mutter ist letztes Jahr überfahren worden. 
Seitdem ist alles ganz verwahrlost. 
Die Wahrheit ist „lost“, sozusagen. 

Ingrid, die Igelin, kommt 
manchmal zu Besuch. 
Doch es hat alles keinen Sinn. 

Hasan wäscht sich nicht, 
putzt nie seine Zähne, 
hängt den ganzen Tag nackt 
vor dem Fernseher. 

Rum. 

Hier bin ich wieder – Schubert, und lese, was ich da geschrieben habe. Müll wäre sogar ein Euphemismus! Dennoch schreibe ich weiter. Das Genie in mir wird ab irgendeinem Wort zum Vorschein kommen, und ihr, liebe zahlreichen Leserinnen, werdet eure Augen nicht mehr von meinen Texten abwenden können. Ihr werdet die einzige, wahre Schönheit in ihnen entdecken, und euch wundern, wie ein zotteliges, unnachgiebiges Schaf so etwas zustande bringen konnte.

Ich muss zugeben, dass ich selbst nicht so ganz daran glaube. Wie macht man das nur? Wie beginnt man ein gutes Buch? Hier wieder ein Versuch:

Schubert das Schaf 

Ein dickes und schönes
weißes und großes 
schickes und kleines 
Beethovenschaf 

lebt auf einem viereckigen, 
unbeugsamen 
verstöhntem 
und gemeinen Planeten namens 
„Dreck“. 

Von hier aus schwebt Schubert 
(so heißt es) 
durch die wilde Luft 
und verwandelt alles 

ALLES! 

sowie jedes einzelne Staubkorn des Universums 
in Musik. 

Die Menschen haben Komponisten erfunden, 
um sich einzubilden, 
jemand von ihrer Art hätte diese 
zauberhaften Klänge 
erfunden. 

Doch es war alles Schubert. 

Schubert ist so groß wie die Sonne, der Mond und drei Erdbälle zusammen. Die Erde würde ersticken, flöge sie beispielsweise in seinen Bauchnabel. 
Ich quäle mich

zerquetscht 
zerquält 
geschält 

liege ich im Bett 
und weine 

fresse mir die Tränen aus dem Bauch 
verwandle mich in eine unbewegliche Robbe 

und springe aus dem Fenster 
Henry, dem Supermarkt 
geht es nicht so gut. 
Es regnet heute auf sein Dach, 
und schon kriegt er die Wut. 

Ich bin Schubert das Schaf und mich bedrückt so Einiges. Gerade zum Beispiel, warum mich der eine Student während der schriftlichen Prüfung die ganze Zeit anschaut. Hat er Angst? Hat er was zu verbergen? Bewundert er mich? Sollte ich einschreiten? Als Dozentin kann ich eigentlich alles machen. Die Studentenschafe behandeln mich ein bisschen wie einen Schäferhund. Sie drängen sich immer dahin, wohin ich sie haben will. Draußen vor der Tür: ständig diese Schlüsselgeräusche. Und wie laut manche schreiben. Und wie leise die anderen. Einige lächeln beim Schreiben. Wenn ich korrigiere, versuche ich dann immer die Stelle zu finden, die sie zum Lächeln gebracht hat.

Ich habe eine Telefonphobie. Heute hat mich schon wieder jemand unangekündigt anzurufen versucht. Ich habe nicht abgenommen. Ist das ein Vorsymptom einer Depression? Was habe ich für ein Problem? Warum will ich nicht telefonieren? Was ist daran so schlimm? Welches Trauma wurde wann und wie und warum in mir verursacht, dass ich jetzt den Hörer nicht mehr abnehmen kann? Und warum insistieren die Leute so, rufen immer und immer wieder an, ohne, dass ich abnehme? Man könnte doch auch eine Mail schreiben. Oder eine Textnachricht. Ich verstehe das nicht. Dieser Zwang, zu telefonieren, um sich so wenig oder gar nichts zu sagen. Ich will das nicht. Das ist psychischer Stress. Dieses Ständigverfügbarseinmüssen. Dieses Nieeineruhezeithabenkönnen. Keine Pause von der Welt. Dieses Zugemailtwerden und Angerufenwerdenmüssen zu allen Tag- und Nachtzeiten. Wann hört das auf? Was bringt das? Wäre ich traurig, wenn es aufhörte?

Die meisten Schafe schlafen alle zusammen in einem Bett. Deswegen haben sie so riesige Betten. Deswegen sind sie so weich: das hat die Evolution gemacht, damit sie es schön warm haben in der Nacht. Und damit der Wolf das Fleisch nicht findet, wenn er reinbeißt. Damit das Schaf nicht gleich tot ist, oder behindert. Ich bin aber anders. Ich kann nur allein gut schlafen. Weder mein Lamm, noch meinen Vogel lasse ich in mein Bett. Ich finde es am Gemütlichsten, wenn ich ganz allein drin liege, eingehüllt in meine Decke, im völligen Dunkel, in völliger Stille, in Völligem. Nur allein zu Hause will ich nicht sein. Es sollte irgendwo anders in der Ecke oder in einem Bett ein anderes Schaf, mein Lamm oder der Vogel schlafen.

Mein Vogel ist groß und schön. Er hat haariges, schwarzes Gefieder, und einen kleinen Glatzkopf. So ähnlich wie ein Graureiher steht er dann bei mir in der Küche und guckt beispielsweise eine Kelle an. Oder mich. Meistens grinst er. Und er hat Augenlider, was für einen Vogel eher ungewöhnlich ist. Sein Arsch ist richtig knackig. Ich bin so erschreckend stolz, dass ich diesen Vogel gefunden habe, und dass er mich auch noch mag. Er ist außerdem sehr selten. Ich mag es, wenn er mir vorliest aus schönen Büchern. Wenn er mir Textnachrichten schickt. Meistens sind sie lang, und ich ergötze mich daran. Wenn sie kurz sind, sind sie wie die langen. So lyrisch. Sie haben so ein Etwas. Gerade in ihrer besonderen Kürze. Manchmal hat er Wutausbrüche. Die versuche ich nicht ernst zu nehmen und schnell zu vergessen. Ist aber nicht immer einfach. Zum Beispiel hat er mich einmal beim Mundküssen gebissen und mich angeschrien, ich solle den Mund nicht so weit aufmachen. Da hatte ich mich ganz schön erschreckt. Aber er ist nun mal ein Vogel. Mit einem Schnabel küsst man ganz anders, als mit einer weichen, flauschigen Schnauze, wie ich sie eine habe. Ich küsse auch wie die anderen Schafe, ich bin nicht so besonders wie er. Manchmal macht er, dass ich merke, dass er mich liebt. Ich liebe das. Ich liebe ihn. Wie er ist, mit seinen Mackeln und seinen ganzen Eigenschaften. Ich möchte sie insgesamt anfassen und überall küssen. Ich will, dass er ein gutes Gefühl hat. Dass es ihm gutgeht.

Wenn ich die Studis so beobachte, gucken alle woanders hin, beim Schreiben und Nachdenken. Wie auf einer Bühne. Wenn sie sich so spielen müssten, könnten sie das gar nicht so gut, wie sie es selber jetzt gerade tun.

Ich bin Schubert das Schaf und den ganzen Tag gestresst. Sogar, wenn ich keine Termine habe, mache ich mir Sorgen und Druck und habe Angst, zu spät zu kommen. Ich glaube, dass es mir genauso ginge, wenn ich eine Arbeit hätte, bei der meine Aufgabe darin bestünde, nichts zu machen, oder wenn ich gar keine Arbeit hätte. Wenn ich kein Lamm hätte, das ich alleine großziehen müsste, und auch nicht zu arbeiten bräuchte, weil ich reich wäre, wäre es genauso.