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Der Stomatohoden. Ein Lamento

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Weich bin ich eingehüllt in einen angenehm warmen Seidenschlüpfer. Er umschließt mich ganz, sodass es nicht zieht. Sonst hänge ich ein bisschen heraus, und der Luftzug kraust meine Härchen.

Was soll ich sagen? Die Evidenz verschweigt es nicht, doch zu allem bin ich nicht in der Lage. Ich würde so gerne einmal die Welt sehen. Aber ich sehe nichts als Schlüpfer, Beinhaare, Bäder, Betten, ab und an werde ich gelutscht. Das kitzelt und ist feucht. Das fühlt sich ganz nett an, ich könnte aber darauf verzichten.

Dennoch kann ich mich nicht beklagen. Ein Tag wie jeder andere. Komisch, dass ich heute gar nicht schwitze. Schon die Nacht über war es angenehm kühl, ich kann einfach nur „sein“ und denken, und muss nichts ausstehen. Doch irgendetwas Hartes reibt mich und quetscht mich die ganze Zeit. Oh nein, nicht schon wieder. Gibt es kein Verständnis für arme Hoden wie mich? Muss ich an einen harten Sattel gerieben werden, drangequetscht, das ganze Menschengewicht auf mir, und dann auch noch an den Sattel geschleudert, ab und zu? Das Drangebaumeltwerden tut besonders weh.

Vielleicht soll es so sein, und man muss manchmal Schmerzen ertragen. In meinem vorigen Leben war ich eine Mahagonikatze, und davor ein Seehund. Jetzt bin ich dieser Hoden. Immerhin eine Abwechslung. Mit dem Unterschied, dass alle denken, ich hätte keine Seele, keine Augen, keine Empfindungen. Ich sei einfach nur ein Körperteil. Das ist schon hart. Besonders, wenn man ein Stomatohode ist, also der Hoden eines Stomatopoden. Ich habe sogar eigene Synapsen und denke mit!

Stirbt mein Stomatopode, sterbe ich mit. Ich weiß nicht, ob es besser wäre, etwas anderes zu sein als ein Hoden. Immerhin habe ich wenig Verantwortung. Ich muss nicht besonders schön sein, da ich stets versteckt gehalten werde, und auch sonst habe ich wenig zu tun. Für eine faule Seele wäre es die ideale Verkörperung. Aber was, wenn man energisch, neugierig, feinfühlig und intelligent ist wie ich? Vielleicht bin ich deshalb ein Stomatohoden geworden, und kein gewöhnlicher Hoden. Beispielsweise werde ich nie gekratzt. Und ich werde jeden Abend ausführlich gewaschen. Das gefällt mir schon.

Aber ich würde gerne etwas intellektuell gefordert werden. Als ich eine Katze war, konnte ich immerhin auf geschickte Weise Mäuse fangen und mit ihnen spielen, bevor ich sie in ausgeklügelter Manier tötete. Als Seehund konnte ich meine Fangkünste verfeinern, die schwierigsten Fischsorten perfide zu Tode jagen und meine Familienmitglieder aufmerksam beglücken. Doch was kann ich als Hoden? Jammern kann ich. Und das wars.

Ist eigentlich schonmal irgendjemandem aufgefallen, dass Hoden keine Freunde haben? Keine Freunde haben können? Zumindest nicht mit Artgenossen. Abgesehen vom siamesischen Bruder, dem anderen Hoden, bekommt man nie einen fremden Hoden so nah zu Gesicht, und so lange und regelmäßig genug, als dass man sich mit ihm anfreunden könnte. Das fehlt mir schon. Mit Eduard, meinem Bruder, kann ich eigentlich gar nichts anfangen. Ich glaube, er lebt gar nicht mehr. Wir haben noch nie ein Wort gewechselt. Es wirkt ganz so, als hätte er gar keine Gefühle, keine Sprache, kein Nichts. Und ich fühle mich wie ein Alien neben ihm.

Wir könnten wenigstens auch verfeindet sein und hätten heftige Auseinandersetzungen. Auch das wäre ein geistiger Gewinn, eine Beschäftigung. Aber mit einem Niereagierendem kann man nichts anfangen. Man kann ihn nichtmal liebhaben.

Wenn immer Menschen jammern, ihnen sei langweilig, dann haben sie nie an die Hoden gedacht. Was sollen die dann sagen? In andauernder Dunkelheit werden sie durch die Gegend getragen, an etwas gequetscht, können bei nichts mitreden, werden nicht wahrgenommen und sogar tabuisiert.

Würde man uns offen zur Schau stellen, uns Hoden, dann wäre die Hölle los. Aber die Busen, beispielsweise, dürfen viel öfter raus, und die sehen viel mehr, und die werden tausendmal besser behandelt als wir. Sie werden gestreichelt, geknetet, sie dürfen oft frei sein, sie werden sogar separat fotografiert, sie sind ganz und gar stolz. Wir Hoden hingegen hängen nur träge herab und griesgrämen. Manchmal werden wir sogar getreten, oder ein Ball wird auf uns geschossen.

Doch eine Geschichte möchte ich noch erzählen. Inzwischen bin ich ein alter Hoden, und ich habe für meinesgleichen schon vieles erlebt. Als ich in der Pubertät war, hatte ich mein Hodendasein einmal richtig satt, und als ich größer wurde und mit Scham belastet, hatte ich die Idee, dass ich einmal herausschauen könnte, durch den Schlüpfer, durch die kurze Hose, dass ich mir einfach die Welt mit ansehe, und mich an ihr erfreue. Ich sah viele schöne Dinge. Man denkt gar nicht daran, aber der Boden ist voller Schönheiten. Kieselsteine zu Tausenden sahen mir ins Gesicht, ich konnte die wunderbaren Asphaltspuren sehen, diese vielfältigen Teermuster, in Hunderten von Blau- und Schwarztönen, und Sand, leuchtenden, glitzernden, funkelnden Sand. Er strahlte mich so sehr an, dass ich lachte vor Freude, dass ich lachte und platzte vor Freudesgefühl, dass ich richtig glücklich war, und mein bäriger Freudenschrei schreckte alle Leute um mich herum auf und herum, sodass ich schnell wieder versteckt worden bin. Ich muss die Menschen und Tiere und Kinder und den Sand, den ich so liebe, erschreckt haben, mit meinen Falten und meinem dunkelhodigen Freudenschrei, sodass ich nie wieder herausgelassen wurde, wenn ich merkte, jetzt gehen wir durch die frische Luft.

Aber die Erinnerung bleibt. Der Sand in seinen Facetten bleibt meine schönste Erinnerung. Die vielen kleinen mikroskopischen Steinchen, das Leuchten in die verschiedenen Richtungen, die weichen glänzenden Farbtöne, dieses kitzelnde Glitzern, das ist meine Welt, das umgibt mich, sehe ich. Wie in von einem Sternenhimmel umgibt mich stets das Funkeln des Sandes, dreht sich um mich, und in Trance hänge ich herab.

Darum möchte ich jeder und jedem, die und der einmal mutlos ist, einmal eingeschlossen ist, versteckt oder verpönt wird, sagen: ihr habt eine Seele, eine empfindliche. Lasst sie heraus. Schaut durchs Fenster. Und ihr werdet sehen, wie schön es sein kann, wenn man das Schöne will.

Und jammert nicht so herum.

Steckbrief: Stomatohode

Alter: 43

Aussehen: Fest, leicht gefaltet, zum Anfassen schön, mit kleinen grauschwarzen Härchen

Seelenhistorie: Mahagonikatze, Seehund, Igel, Taube, chinesische Bäuerin, Biene, Mücke, Hengst, Affenbrotbaum, Wellensittich, Wittling, Elch, Menschenohr, Nase, Ameisenbär, und früher einmal: Herakles.

Schwäche: Jammert viel.

Stärke: Hat viel Fantasie und ein gutes Gedächtntis. Kann mit seiner Erinnerung viel anfangen.

Traum: Einmal wieder Philosoph zu sein.

Traumland: Dänemark.

Lieblingsfarbe: Sanden.

Lieblingsvogel: Amsel.

Liebliengskomponistin: Beethoven.

Motto: Phillippa intoria ! Causa vergelis.