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Stomatopoda

Aber das Gesicht

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An Henry Parland1

Eine kleine kluge Maus namens Eberhard steckte in einem Abflussrohr fest. Ihr haariges Ärschlein hatte gut durchgepasst, ihr durchtrainierter muskulöser Bauch auch, aber das Gesicht. Das nicht. Es steckte innen drinnen, was besonders unglücklich war, weil man es so nicht sehen konnte, und alle Mäuse, die am Rohrende vorbeiliefen, dachten sich nichts dabei, weil eine gewisse Dummheit dazugehört, oder unerfahrene Jugend, in einem Abflussrohr steckenzubleiben, aber wenn sie gewusst hätten, dass es Eberhard war, der da feststeckte, wären sie sofort besorgt herbeigeeilt und hätten ihn befreit. Aber sie konnten ihn nichtmal hören. Eberhards Schreie erreichten das Rohrende auf der anderen Seite, wo eine Aerobicparty stattfand und vor lauter Musik seine verzweifelten Rufe niemand wahrnehmen konnte, und sein haariger dicker Körper dämmte den Lärm nach draußen hin sehr gut ab. Von außen sah man nur einen armseligen, nackten Mauserkörper aus dem Rohr baumeln. Plötzlich schlich sich eine riesige, getigerte Katze heran, beobachtete Eberhards Zappeln eine Weile, und schnappte zu. Das Ärschlein und den Bauch und die Ärmchen und Beinchen hatte sie gefressen. Aber das Gesicht.

Lisa machte das Buch zu, guckte noch eine Weile geradeaus, legte sich ausgestreckt mit dem Bauch auf den Boden und ruderte langsam mit den Armen und Beinen auf dem Boden auf und ab. Der Teppich sah aus wie eine Faserstadt mit lauter kleinen Fusselhäusern. Je länger man aus dieser Nähe draufschaut, desto mehr kann man erkennen: kleine schwarze und braune Punkte, die wie geschäftige Menschen aussehen, die in diesem Faserland herumliefen, zwischen größeren Knäuelhäusern und Wolkenkratzern. Die Faserfäden und Schlierenfussel sehen aus wie Flüsse oder Straßen, oder Schienen, die sich kreuz und quer durch das alles hindurchziehen. So in etwa musste Lisas Stadt jetzt auch von oben aussehen, von ganz weit oben, von den Wolken aus gesehen, oder von einem Fallschirm. Ein riesiges Gewusel aus Türmen, blinkenden Ampelstraßen, Autos, Bussen, Zügen und Menschenpunkten, die sich ganz langsam hin und herbewegten. Wie ein graues, dunkles, glitzerndes Bunt. So sieht es vielleicht auch für die Toten aus, bevor sie zu Lisa heruntergleiten, sich in ihr Zimmer setzen, und schauen, was sie da so macht. Wo würde sich Oma Bärbel hinsetzen? Auf den Bürostuhl, groß vor Lisa aufgebahrt, mit den Bollerrollen? Das wäre ja sofort aufgefallen, so laut hätte es gepoltert und gequietscht, Oma wäre sicher weggebollert, sie war doch so tollpatschig. „Ach nein!“ hört Lisa die Stimme ihrer Oma ganz sanft und belustigt zu ihr sagen. „Ich habe doch keinen Körper mehr. Und ich bin ganz leicht!“ Wo kam das her? Lisa muss wiedermal getagträumt haben.

Vielleicht liegt ihre Oma auch die ganze Zeit auf Lisas Bett. Auch nachts, neben ihr. Lisas Oma hatte zu Lebzeiten sehr viel Zeit in ihrem Bett verbracht. Sie hat dort gelesen, ferngesehen, gekreuzworträtselt, telefoniert, aus dem Fenster geschaut, Briefe geschrieben, und immer wieder gelesen und gelesen und gelesen. Sie hatte ein elektrisches Bett, dessen Fuß- und Kopflehne man mit einer Fernbedienung hoch- und runterstellen konnte. Umso besser, wenn Omas Geist hier irgendwo war. Wenigstens war sie nicht weg.

Lisa wollte ein Buch schreiben, doch sie wusste nicht, wie das geht. Fängt man an zu schreiben und denkt sich währenddessen die Geschichte aus? Sollte man sich eine Skizze machen, oder einen riesigen Plan mit Pfeilen und Verweisen, und erst danach die Geschichte aufschreiben? Braucht man überhaupt eine Geschichte? Immerhin steckt ein „ich“ drin. Viele gute Bücher haben gar keine Geschichte, scheint es. Doch wie findet man die richtigen Worte? Den Stil, der die Leserinnen packt und in das Buch hineinsaugt, so sehr, dass sie nicht mehr herauskönnen und erst am Ende des Buches gegen ihren Willen herausgespuckt werden. Gleich würde Kris kommen, Lisas beste Freundin. Wegen einer seltenen Autoimmunkrankheit hat sie eine Glatze. Das fand Lisa sofort interessant, denn wer hat sonst in ihrem Alter schon eine Glatze? Kris musste also ganz besonders sein. „Hey!“ – „Hey!“ Kris kniete sich zu Lisa nieder. „Meine Oma ist hier, sie schaut uns zu.“ – „Ich weiß“. Kris hatte Oma Bärbel als ganz kleines Mädchen noch kennengelernt. Sie wurde von ihr immer „Christinchen“ genannt, aber das machte ihr nichts aus, weil sie es so liebevoll und schmusig sagte. Bei Oma Bärbel gab es Himbeereis, Kalten Hund und es roch den ganzen Tag nach Rosen bei ihr. Für Kris wurde sie auch zu einer Oma, denn sie ging oft gerne einfach so zu ihr. Es war immer gemütlich. Überall standen Bücher in den Regalen, zwischen weißen Engelsfiguren und Kerzen, egal, zu welcher Jahreszeit. Und der Fernseher lief mit Nachrichtensendungen. Außerdem war Oma Bärbel eine lustige Frau, die gerne laut lachte und schrie. Ihr Niesen konnte man in der ganzen Straße hören. – Was machst du da auf dem Fußboden? – Och. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, mit meinem Buch. – Vielleicht, weil du noch nichts erlebt hast. Man kann erst ein Buch schreiben, wenn man schonmal etwas erlebt hat. – Willst du damit sagen, dass alle Schriftstellerinnen alles erlebt haben, was sie aufgeschrieben haben? – Nein! Aber sie haben genug gesehen und verstanden in ihrem Leben, um sich selbst eine imaginäre Welt zu schaffen. – Ich glaube eher, dass man viel gelesen haben muss, um zu wissen, wie man mit dem Schreiben beginnt. Denn egal, wie spannend oder langweilig die Geschichte auch ist, wenn sie gut geschrieben ist, dann wollen sie alle lesen. – Unsinn! Außerdem braucht man keine Geschichte. – Na gut. Dann lass uns was erleben! Beide Mädchen zogen sich komplett nackt aus, malten sich in blauen und grünen Pfauenfarben an und beklebten sich mit Konfetti. „Aber das Gesicht?“ – „Das doch nicht.“

Lisas Eltern würden erst nach acht Uhr nach Hause kommen. Sie hatten also noch über zwei Stunden Zeit, um etwas zu erleben. – Lass uns aus dem Fenster klettern! Auf den Dächern herumlaufen und in fremde Dachfenster schauen! Lass uns mit dem Springseil an einer Dachrinne festknoten und Bungee-Jumping daran machen! – Ach nein. Das hat doch nichts mit Erleben zu tun. Du verwechselst das mit einem Erlebnispark. Erleben heißt, Erfahrungen sammeln. Lernen, zu leben. Sich zu verlieben, und die Liebe immer stärker werden zu lassen. An ihr zu arbeiten. Erleben heißt: Lieben. Erleben heißt: Sterben, immer wieder. Abschiede durchmachen, Trennungen, Neuanfänge. Erleben heißt, das Leben voll und ganz auszuprobieren, deswegen heißt es ja auch so. Etwas er-leben, auf und ab und immer zu und immer wieder neu. Erleben heißt, Schmerzen gehabt zu haben, Hunger gehabt zu haben, gelernt zu haben, Glück zu erkennen und zu akzeptieren, oder mehr noch: es zu genießen. Erleben ist das alles. Und damit empfänglich zu sein für das, was dich umgibt, und zu sehen, wer da um dich lebt, und erlebt. Man kann das auch beim Filmegucken ein bisschen lernen. – Ach! Deswegen gehst du also jeden Abend ins Kino? Kris war deutlich älter als Lisa. Sie durfte schon machen, was sie wollte. – Nicht jeden Abend, weißt du doch. So oft es geht, und nur, wenn es sich lohnt. – Dann lass uns einen Film schauen! Während Lisa das sagte, stellte sie fest, dass das mit dem Schreibenlernen viel schwieriger war, als sie sich das vorgestellt hatte. Es ist eigentlich fast unmöglich, in ihrem Alter, mit ihrer wenigen Erfahrung, ohne irgendwelche Erlebnisse, außer dem Tod Oma Bärbels, etwas zustande zu bringen. Ihre rosagelbblaue Traumwelt, die ihren Körper bis dahin gefüllt hatte, zerbröckelte und fiel in sich zusammen. Mit starrem Blick veranschaulichte sie sich selbst gerade, dass sie ein kleines Nichts ist, das nichts kann und nie etwas werden wird. Sie muss sofort beginnen, Filme zu schauen. In genau diesem Moment fiel ihr etwas ein, und sie schaute zu Kris hoch, die sie vielsagend anblinzelte. Mit einem Blick, der die Antwort bereits preisgab, auf die nichtgestellte Frage: „Schreibst du etwa auch?“ Woher wusste Kris das alles, wenn sie nicht selbst schrieb, oder nicht ausprobiert hatte, mit dem Schreiben zu beginnen?

Prosa war die erste und letzte Sprache der Oligarchin. Ihr gutes Leben, ihre Details und ihre Anweisungen bestanden aus Prosa. Sogar ihr Essen. Als sie erdolcht wurde, blubberte Prosa aus ihrer Brust, und als ihr Prosaherz explodierte, war das ganze Land übersät von Wörtern, die kurz und quer lagen, schwarz und grau wie Vulkanasche bedeckten sie das Land, die erstarrten Menschenleiber und Lebewesen, die Pflanzen, Schlangen und Bienenvölker. Mit dem Verstummen der Welt steckte alles in sich selbst fest und kam nicht mehr heraus.

Lisa staunte. „Das schreibst du also!“ – „Ja.“

Das war der Beweis! Man muss etwas erleben. Kris hatte anscheinend auch noch nichts erlebt. Obwohl sie darüber weiß, und obwohl sie fünf Jahre älter ist als sie, kann sie auch nicht schreiben.

Beruhigend auch, zu wissen, dass sie noch mindestens zehn Jahre Zeit hatte. Oder noch mehr. Vielleicht sogar ihr ganzes Leben. Denn je länger sie wartet und Erfahrungen sammelt, je mehr sie erlebt, desto besser muss sie schreiben können. Vielleicht sollte sie erst kurz vor dem Tod mit dem Schreiben beginnen. Es ist kaum zu fassen, welche Erleichterung dieser Gedanke mit sich bringt, und wie viel Freiraum für das Üben. Eigentlich könnte man jeden Tag etwas aufschreiben, mit dem Wissen, dass es nur eine Übung ist, eine Übung für das Leben.

Lisa schaut zur ihrer Oma aufs Bett. Zunächst fallen ihr die knallroten Lederstiefel ihrer Oma auf, die ihr bis über die Knie reichen. Sie leuchten richtig. Darüber glitzern die türkisblauen Plättchen ihres Pfauenmantels aus Usbekistan, die wunderschönen gemusterten Edelsteinketten passen auch sehr gut dazu, und das Halstuch leuchtet herrlich blau. Aber: das Gesicht.


  1. Oder besser: an Henry Parlands Gedicht Vi körde över en karl (Zwischen Alberga und Kilo), in: Henry Parland: Erhållit Europa – vilket härmed erkännes. Einmal Europa – dankend erhalten. Dikter. Gedichte. 1926-1930. Herausgegeben und aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke. Münster: Buchkunst Kleinheinrich 2014, S. 60, 61. ↩︎