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Die Welt Auf Vinyl

Eine deterministische Zeitreise

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Prof. Dr. rer. nat. Robert Everdings wurde aggressiv. »Gottverdammt, schaut doch hin! Die Ableitung ist so gültig wie das kleine 1mal1!«

Die Konsequenz reduziere die Ableitung ins Absurde, hielt man ihm aus dem Plenum entgegen. Selten in der Wissenschaftsgeschichte waren 45 Physiker/innen so einig wie in ihrer Häme gegen Everdings. Wenn er seine quantenmechanische Phantasterei ernsthaft glaube, könne er es doch ausprobieren. Er werde sehen sehen, nichts werde geschehen.

Er probiere es nicht aus, weil er noch nicht wisse, ob und ggf. wie die beständige Kollapsmuster der Wellenfunktion sich auswirkten, wenn man den in Everett/deWitts Vielweltenuniversum explizit ausgehebelten externen Beobachter wieder einsetze. Man müsse sich das vorstellen wie einen Kratzer auf einer Vinylschallplatte: es können in Grenzfällen Unregelmäßigkeiten bis hin zu lokalen Singularitätsereignissen auftreten. Seine Forschungen seien mangels Finanzierung und mangels Zugang zu Hochenergielaboren in diesem Aspekt unzureichend.

Das seien Ausflüchte, wenn Everdings so überzeugt von seiner These sei, könne er es demonstrieren. Ein Zeitsprung werde keinen „Kratzer“ in der Zukunft erzeugen können, und ein Kratzer in der Vergangenheit sei nicht tragisch. Es gebe ja keinen Gott, der sein Geschirr einer Inventur unterzöge – oder habe der Herr Professor diese Annahme ebenfalls wieder nötig? Hämische Kommentare überwogen, keine Wortmeldung befasste sich mit der Ableitung selbst oder der technischen Realisierung der von Robert Everdings skizzierten Kollapslenkung.

Robert Everdings’ Zorn kochte über. »Ich werde springen. Von hier und von jetzt!«

Er fuchtelte das Gelächter der anwesend Physiker/innen heftig beiseite und ging zum Hochton-Bulk-Acoustic-Wave-Resonator auf dem massiven Rollwagen, den er am Vorabend mit zwei Promotionsstudenten in den kleinen Hörsaal gebracht hat, um als Abschluss und Höhepunkt der Tagung zu offenen Themen der Quantenphysik eine fette Version von Schrödingers Katze auf Makroebene zu reproduzieren, wie es seit der Arbeit von Bild, Fandel, Yang et. al. (2023) immer öfter demonstriert worden war. Es war erst 14 Uhr, aber das Gerät war seit der Mittagspause am Strom.

»In die Vergangenheit, so dass ich euch wieder treffen kann, hier und heute! Dann werden wir vielleicht wie vernünftige Menschen über die Weiterentwicklung sprechen können – hier und jetzt!«

Er packte sein Smartphone, trat zum Rollwagen und aktivierte den Hochton-Bulk-Acoustic-Wave-Resonator, der einen hochfrequenten Pfeifton bei etwa 200 Hertz sowie ein staubsaugerartiges Lüfterrauschen emittierte. In der ersten Reihe sprang sein HiWi Günther Heil mit einem Überraschungslaut auf. Everdings gestikulierte abwiegelnd zu Heil, entsperrte sein Smartphone zweimal und startete die mit Heil und zwei Promotionsstudent:innen entwickelte App zur Steuerung seines Vielweltenkollaptors. Im Plenum verpuffte die höhnische Initiative zweier Mitarbeiter des Lehrstuhls für Angewandte Mathematik zu einem allgemeinen Anfeuerungstrommeln schon nach acht, neun „Hey!“-Bongern.

Everdings ignorierte alles, als sei er wieder ruhig. Der Forscher im Auge der Umwälzung. Er zog eine dünne Plastikfolie aus dem Stauraum des Rollwagens und schüttelte sie auf. Zögernd trat Günther Heil zu ihm, der auch schon bei den Vorbereitungen assisitiert hatte, und half Everdings beim Besteigen eines milchweißen Ganzkörperanzugs. Das Material wirkte wie die Fönhauben der 1970er Jahre, nur dünner und daher nicht blickdicht. Professor Robert Everdings war gut darin zu erkennen, nur die Gesichtszüge verschwammen wie hinter Milchglas.

Das Gelächter im Hörsaal war einer neugierigen Belustigung gewichen. Heils Flüstern war klar zu hören: er helfe Robert Everdings nur aus der Überzeugung, dass es nicht funktioniere. Professoraler, ja altväterlicher Trotz insistierte aus Everdings: es werde funktionieren – oder genauer: irgendwas werde funktionieren.

Günter Heil trat drei Schritt zurück. Robert Everdings hielt sein Smartphone nun in beiden Händen vor der Brust, auf den Hochton-Bulk-Acoustic-Wave-Resonator gerichtet. Die Bluetooth-Verbindung war bereits etabliert, Everdings war authentifziert. Heil drehte sich kurz zum Plenum um: er verdeckte einigen Tagungsteilnehmer:innen die Sicht auf den verhüllten Everdings, weshalb er zwischen Everdings und die große Tafel an der Wand des Hörsaals trat, während Everdings die programmierte Sequenz am Resonator via Smartphone einleitete.

Der Bürgersteig war dunkel. Nicht stockdunkel, immerhin: er sah die leeren Bank im plexigläsern verkleideten Bushäuschen und er sah die ausgehängten Fahrpläne an den Anschlagstafeln. Jedoch nicht die Liniennummer in ihren Überschriften. Oder auch nur ihre Farben. Oder doch, die Farben der Tafeln: grau. Nachts sind alle Tafeln grau. Robert Everdings kicherte. Ein Kalauer. nicht wert zu kichern. Robert kicherte nicht nur über den Kalauer, sondern schon länger, bemerkte er. Der Kalauer lenkte das Lachen nur in einen Gegenstand der Reflexion, so dass sein Lachen ihm bewusst wurde. Wir bemerken ein echtes Lachen erst an uns selbst, wenn wir uns seines Gegenstandes schämen. Roberts Lachen war echt. Manisch. Ein Glucksen & Schnauben. Dennoch echt und dem Kalauer nicht angemessen. Scham war dem Kalauer allerdings ebensowenig angemessen, höchstens in Bezug auf die unerhörte Begebenheit, die soeben sich – Robert stutzte, bevor er laut sagte: »sich begab«. Robert wurde nüchtern: was war hier angemessen?

Er war aus dem Hörsaal gesprungen. „Gesprungen“ in Anführungszeichen, denn noch war Robert – und der Welt – nicht klar, ob sein Ortswechsel tatsächlich eine Folge seines Zeitsprungs war. Und wichtiger noch: ob er tatsächlich in der Zeit gesprungen war. Er zog sein Smartphone aus der rechten Sakkotasche und stutzte: wieso trug er ein schwarzes Schurwollsakko? Für die Tagung hatte er ein mitternachtsblaues Baumwollsakko gewählt, um weniger formell aufzutreten. Aber das Smartphone war drin: 23:37 Uhr. Am 20. Juni. Gestern. Verrückt! Es hat funktioniert?!!

Aber – Moment: »Welches Jahr?«

Robert Everdings entsperrte sein Smartphone. Zu seiner Verwunderung reichte eine Entsperrung aus, obwohl er am Morgen eine doppelte Sicherung aktiviert hatte, wie vor jedem öffentlichen Auftritt. 2009 hatte er sein Telefon einmal einfach gesperrt neben einem Projektor liegen lassen, nachdem Stabilitätsprobleme mit der Bluetooth-Verbindung zwischen den beiden Geräten aufgetreten waren, und es dann während des Q&A vergessen. Eine Promotionsstudentin hatte es ihm nach dem Vortrag gebracht, sie hoffe, Everdings habe nichts dagegen, dass sie die Verbindung bereits deaktiviert und dazu sein Telefon entsperrt habe. Robert Everdings schnaubte und schüttelte den Kopf, nach Jahren noch ungläubig: sie habe seine PIN einfach so gefunden? Nicht einfach so, nein, ein paar Minuten habe es gedauert, weil Everding auch Buchstaben im Kennwort zu verwenden scheine, was sehr lobenswert sei, nicht jede habe soviel Sicherheitsbewusstsein. Sonst habe sie nichts verändert oder ausgelesen am Telefon, gemäß Ehrenkodex des CCC, und sie kenne auch das Kennwort nicht, das werde rein maschinell ermittelt und nicht zwischengespeichert. Je länger das Kennwort, desto länger übrigens die Zeit, es zu ermitteln, fünft Stellen seien wenig. Auch eine zweite, optional zu aktivierende Sperrschicht wirke zuverlässig gegen oberflächliche Angriffe. Sie könne ihn gerne bei der Einrichtung unterstützen.

Das war jedoch momentan gleichgültig. Robert Everdings wurde bewusst, dass er alte Erlebnisse im Detail rekonstruierte, um seine Aufregung zu bändigen:

2023

!

!!!

Das Jahr war noch dasselbe!

Der Tag ein anderer!

Folglich war er aus der Tagung heraus zum Vorabend der Tagung gesprungen, ganz wie er es errechnet hatte, in Bestätigung seiner These zum Wechseln zwischen Zweigen des Mehrweltenkontinuums. Welche ein krasser Sprung!

Zumindest teilweise sah er seine These bestätigt: unidirektionale Wechsel glaubte er bestätigt zu sehen. Der Ortswechsel war nicht Teil seiner Prognose. Es galt, skeptisch zu bleiben.

Aber: Warum war er nicht mehr im Hörsaal?

Robert Everdings ging zur Bushaltestelle und betrachtete die Aushangtafeln, ohne auf die ausgehängten Fahrpläne zu achten. Er erinnerte sich: in der Nacht zuvor war er gegen Mitternacht ebenfalls an der Bushaltestelle, um nicht so spät mit dem Fahrrad nach Hause fahren zu müssen und im Bus die knappe halbe Stunde Fahrtzeit noch an der LaTeX-Präsentation für seinen Vortrag arbeiten zu können. Aber der Nachtbus fuhr nur am Wochenende, so dass er doch das Fahrrad genommen hatte. Der 20. Juni war weiterhin ein Dienstag, so dass Everdings auch jetzt nicht mit einem Nachtbus rechnete und zu seinem Fahrrad schlenderte. Die Präsentation war fertig, er hatte keine Eile, zudem wusste er genau, dass am sich Morgen der Tagung zwar kleinste Pannen ereignen, aber seine Assistent/innen alles schnell ins Lot bringen würden.

Voll von sich selbst, radelte Robert Everding in die vergangene Nacht und einen bereits erlebten Morgen. Dabei antizipierte er seinen Dialoganteil an einem völlig anders zu verlaufenden Q&A in lautem Selbstgespräch.

[ Fortsetzung folgt am 10. Juli 2023 ]