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Die gelbe Bank

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Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Ich bin nicht berühmt geworden, aber das hätte es auch umständlich gemacht. Ich werde nicht unvergesslich werden, niemand wird meine Gedichte und Erzählungen und Romane und Briefe lesen, niemand wird sich je an mich erinnern, an mich denken, oder mich auf einem alten Foto wiedererkennen. Guten Gewissens kann ich sterben.

Die gelbe Bank. Auf dieser Bank möchte ich nur noch sitzen. Am liebsten bis zum Tod. Ich liebe gelbe Bänke. Ich liebe alles, zur Zeit. Denn Günther ist endlich gestorben. Sein Geröchel, seine flächigen Leberflecke, sein Meckern über die kalte Suppe, sein Meckern über die heiße Suppe, die Ecke ist nicht richtig geputzt, ich soll ihm den Rücken kräftiger kratzen, mehr eindrücken, sein Jammern über die Schmerzen im Bauch, über die Hitze, über die Medikamente, diese elende Langsamkeit beim Anziehen und Rausgehen, diese Langsamkeit beim Nachdenken mitten im Satz, diese langen, langsamen Sätze, diese ekelhaften Zigaretten, dieser vorwurfsvolle Blick, dieser Gestank aus seiner Hose, aus seinem Bauch, aus seinem Gesicht, diese ganzen Verwandten und Enkelkinder, die er hatte, die Geschichte mit dem Autounfall zwischen Zella-Mehlis und Oberhof, das abgestürzte Auto, die tote Ehefrau, das Trauma, die Frage nach dem Warum-nicht-ich?, die Tierdokus auf NDR, das Angeranntkommen wegen irgendwas Unwichtigem, dieses Stöhnen und Röcheln, das Husten, der Schnaps, der viele Schnaps, der Dreck, die Urinflecken auf dem Teppich, diese Spur vom Klo bis zu seinem Fernsehsessel, an dem sein Hintern angewachsen zu sein schien, immer fester, mit den Jahren, die wachsende Taubheit, die wachsende Sturheit, das wachsende Unverständnis, das Gefühl, diesen Mann nicht zu kennen, ihn nie geliebt zu haben, sich zu fragen: was er, oder es, dieses Vieh, dieses Haustier, in meinem Leben, in meinem schönen, sonnigen und medikamentenfreien Zuhause, zu suchen hat.

Ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich denke, ich habe ihm und mir etwas Gutes getan. Es ging schnell, es war einfach, es hat Spaß gemacht. Hätte ich vorher gewusst, was für ein sinnliches Gefühl das ist, ich hätte es viel früher getan. Ich hätte mein Leben jedes Mal um zehn Lebensjahre verlängern können, proportional zur gewonnen Glückseligkeit. Ausschlafen. Zeitung lesen, von vorne bis hinten. Gärtnern. Schreiben. Proust lesen. Den Garten genießen, die Stille, das Alleinsein mit den 29 Rosensorten, mit den Toten sprechen, baden, Kunstkalender studieren, still sein und es bleiben.

Jetzt liegt er hier. Unter mir. Unter der gelben Bank. Es war der einzige Fleck in diesem Park, der nicht zugewachsen zu sein schien. Die Erde ließ sich leicht wegschaufeln. Trotz meines Alters habe ich Muskeln in den Armen, im Bauch, in den Oberschenkeln. Alle zwei Tage trainiere ich, Laufen und Krafttraining, und ja: ich bin die Älteste im CrossFits, bei Weitem, aber nicht die Schlechteste, und ich kann ein Grab schaufeln. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, also: wo er unter der gelben Bank ist, und ich darauf sitze, fange ich an, ihn zu vermissen. Den traurigen Blick, wenn ich zur Kur fahren musste, und mich für fünf Wochen verabschiedete. Den traurigen Blick, wenn ich sagte: ich bleibe in meinem Zimmer, wenn deine Tochter aus Amerika kommt. Tagelang. Seine traurigen, braunen, klugen Augen. Seine kritischen Kommentare über die neuesten Literaturmeldungen in der Diplomatischen Erde. Er konnte alle Sprachen, dachte ich manchmal. Sein grauschwarzes Haar, nach hinten gekämmt, wie bei den Nazis. So alt war er ja auch. Seine klugen Augenfalten, die ich so gerne geküsst hatte, früher. seine verschwitzten Hände, die mich fest gehalten haben. Seine stilreichen Unterhosen, seinen Bart, den ich am liebsten immer hätte halten können. Sein Verständnis für dies und das und für mich und die Tränen, sein Doppelkinn, seine 23 Brillen, im Haus verteilt, und im Garten, sein großzügiger Gang, seine Stimme, sein kluger, trauriger, eigensinniger Blick, seine immer größer werdende runde weiche Nase, seine Hemden, die er stundenlang selbst zusammenlegte, seine Traurigkeit, sein „Ich glaube, es ist etwas Großes“, sein Atmen, seine Umarmungen, sein leichtes, verschmitztes Grinsen, seine Vergangenheit, sein weiches altes Unterhemd, seine vielen Schüler, sein ganzes Wissen, seine Art, zu sitzen und auf den Artikel zu starren, mit dem Gesicht in der Hand.

Diese gelbe Bank. Wenn die Menschen wüssten, die an mir vorbeilaufen. Die leuchtäugigen Paare, die Familien mit zwei Kindern die nach außen hin tun, als seien sie glücklich, und wohlbehaben lächeln, überlaut mit den Kindern sprechend, in einem höflichen Ton, wenn die wüssten, die sinnierenden dicklichen Männer, die ehrgeizigen Ego-Shooter-Jogger und die ganzen dummen Leute, die da jeden Tag vorbeilaufen: wenn sie nur wüssten.