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Stomatopoda

Die Bildnisse der Doris Mar­que­net

Erster Versuch: Der Auftrag

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Erster Versuch: Der Auftrag‹ ist die erste eines Zyklus von Kurzgeschichten (Arbeitstitel: ›Die Bildnisse der Doris Marquenet‹), die zu einem Band von Kurzgeschichtenzyklen (Arbeitstitel: ›Geschichten aus der Welt des Geldes‹) aus dem Gewerbe der Finanzdienstleistungen geschrieben werden.

A #

Als Doris Marquenet dreiunddreißig Jahre alt war, ließ sie sich porträtieren, vielleicht als erste in ihrer Familie.

Aus Eitelkeit: das Porträt sollte an ihrer statt altern. Eine Freundin hatte ihr unlängst ein Buch zum Geburtstag geschenkt, dessen Grundidee Doris überzeugte: die Male von Schmerz und Zeit abzuleiten aus dem eigenen Leib und sie in ein Bild fahren zu lassen.

Als Investmentbankerin hatte Doris Marquenet ihre Seele bereits dem Teufel verschrieben. Daher musste ihr bei der Lektüre des Dorian Gray dessen wesentlicher kaufmännischer Springpunkt entgehen: nicht bereits die Existenz eines Porträts, sondern erst dessen stückfürstückes Eintauschen gegen Grundpfeiler einer Persönlichkeit ermöglicht die Stellvertreterfunktion des titelgebenden Porträts. Erst mit Akten der Selbstverschwendung erhält man sich Teile seines Wesens. Weit von Verschwendung von – eigenem – Eigentum entfernt, wollte Doris sich hingegen selbst behalten. Vollständig behalten, im status quo. Der Einsatz, den zu leisten sie bereit war, betraf nichts von ihr selbst, nichts Essentielles, sondern branchenüblich: Geld.

Nicht Buchgeld. Sondern Geld, das nicht fließt: Geschäftsanteile. Die Praxis definiert deinen Horizont.

Die Liquidität der Post­mo­derne liegt im ver­äußer­baren Anteil an der Zukunft.

Die Funktion des Geldes als Stellvertreter einer Opfergabe war altmodisch, aber dem Finanzgewerbe fundamental. So fundamental, dass Marquenet sowenig auf den Gedanken gekommen wäre, für Geld könne sie ihr Porträt nicht malen lassen, wie auf den – in der Tat anachronistischen – Gedanken, tatsächlich Geld fließen zu lassen. Die Liquidität der Postmoderne liegt im veräußerbaren Anteil an der Zukunft.

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Als Doris Marquenet dreiunddreißig Jahre alt war, ließ sie sich Doris hielt es für einen günstigen Faktor, dass der Porträtinvest lokal sogar Liquidität in einer ihrer eigenen Anlagen erhöhte: sie vereinbarte mit der Malerin, einer Serbin namens Nataša Ašatanković, das fällige Honorar in Form von Anteilen an einem Entwicklungsprojekt der kommunalen und energiewirtschaftlichen Infrastruktur im Nordwesten der Republik Serbien zu übertragen. Ein einfacher Weg, das Honorar zu verschleiern, da der Wert der Anteile abhängig vom Datum der Übertragung war. »Legal?« Verbucht werden würde er am Ende der siebenjährigen Laufzeit tatsächlich nur zu einem Zwanzigstel des nominalen Anteils an der Veräußerungssumme.

Ašatanković war Geld gleichgültig. »One has to pay in other ways but money.« Sie wollte die Welt. Als Wandmalerin und Ehefrau nicht auf Buchgeld angewiesen, aber auf lokale Kundschaft angewiesen, wollte sie neue Arbeitsfelder erschließen. Absatzmärkte. In Serbien ist immerhin die religiöse Wandmalerei wegen der institutionellen Verankerung sehr einträglich, national wie regional, sofern man stabile Verbindungen in die weltlichen oder Kirchenbehörden hat. Tempel und Kathedralen sind auch im 21. Jahrhundert noch Geldwäscheprojekte, nicht nur in Osteuropa, wenngleich neuerdings die digitalen Schein- und tatsächliche Innovationstechnologien das Feld dominieren. Das spürt man sogar in Serbien. Der Himmel über Belgrad hat eine Grenze, das sah diese Nataša Ašatankovič von ihrem Boden aus. Nach der Geburt zweier Töchter in kurzer Folge bot ihr Marquenets Porträtauftrag die Gelegenheit, sich als Staffeleimalerin national, vielleicht international zu etablieren.

– When have you been born, Doris Marquenet?

– I’m thirtythree years old.

– The day! I need the day, of course!

– September 17. A Friday.

– Of course, Friday! Odličan, Doris Marquenet.

Als Investmentbankerin war Doris Marquenet gewohnt, lange auf Ertrag zu warten. Zwar handelte sie mit dem Geld der Bank auch kurzfristig, um das verfügbare Kapital während Brachzeiten zu erhöhen, doch stets mit der Rückbindung an mittel- und langfristige Anlage- und Entwicklungsprojekte, bevorzugt in den Schwellenländern des Kalten Kriegs. Erst im dritten Jahr nach der Porträtierung stellte sie ihre Investition in das Porträt infrage. Dann jedoch an der Wurzel. Ja, die persönlichen Quartalsberichte, nur für sich selbst angefertigt an jedem ersten Sonntag des Quartals, waren während zweier Jahre ungünstig ausgefallen: Doris wirkte müde und „unfrisch" auf den mit leichter Überbelichtung und hohem Kontrast aufgenommenen Fotografien der physischen Dokumentationsabschnitte, und ihre Laufzeiten über 400 und 1500 Meter waren jeweils rund 1,2 Prozent über dem Median des Vorjahresfünfts. Aber sie glich das einerseits durch knapp 10 Prozent höhere Wiederholungszahlen bei den Kraftübungen ihres zweimalwöchentlich halbstündigen Intervalltrainings aus, und Doris wirkte insbesondere im Frühherbst 2011 noch „wach", lebendig, „dynamisch", gestrafft von – intersubjektiv sichtbarem – „Elan". Als Ökonomin blendete sie unscharfe Begriffe dicht zwischen ihre empirisch gewonnenen Zahlen.

Auf Dauer können Worte aber Zahlen und Fakten nicht übertünchen.

Als Ökonomin blendete sie unscharfe Begriffe dicht zwischen ihre empirisch gewonnenen Zahlen.

Die Quartalsberichte drei und vier nach dem Störfall von Fukushima beunruhigten mit Schieflage: nachdem drei mittelfristige Leerverkäufe von Seltenen Erden ihr ungewohnt schwere Kapitaleinbussen zugefügt hatten. Marquenet versuchte sich mit allerlei Rationalisierung zu trösten, und vielleicht waren die Märkte tatsächlich chaotisch und vielleicht war das schnelle Ende der Blase um die Oxide von Neodym und Praseodym tatsächlich nicht abzusehen. Doch ihr Selbstbild litt beträchtlich an der schwindenden Liquidität, gerade nach den ungetrübten Erfolgen der Vorjahre: die Weltmarktkrise 2007/08 hatte sie nicht nur unbeschadet überstanden, sondern sogar mit obszönen Gewinnen für ihre Anlagebank. Ihre Prognosemodelle berücksichtigten sehr früh Marktliquidität als Faktor im Risikomanagement, dabei Pástors & Stambaughs Verfeinerung des Faktormodells nicht einfach plump additiv modifizierend, sondern die Liquidität an verschiedene andere Faktoren knüpfend. Eine Modellierungsmodifikation, die ohne ihre Freundschaft plus zu einer koreanischen Versicherungsmathematikerin und ein gestohlenes Datenpaket nicht kalkulierbar gewesen wäre. Man musste Marquenet binnen Jahresfrist über zwei weitere Key-Account-Level befördern, gegen den Markttrend. Man tat es gern. Sie war vom Bankvorstand zur Outperformerin stilisiert worden, und sie schenkte dem Anschein ihren Glauben. Täglich. Notwendig, vielleicht: »Du bist ein Zwerg im Markt. Aber ohne Größenwahn konnte schon David nicht siegen.«

Es geht jedoch nicht um den Sieg. Nicht gegen den Markt, nicht gegen den Trend. »Sondern?« Ums Dabeibleiben. Der olympische Gedanke ist falsch, aber fast richtig: dabeisein kann jede, was soll’s. Doch nur wenige bleiben. Die mit Liquidität: in der Tasche oder sofort verfügbar. Denn das ist auch eine Frage des Einstiegspunktes. Alles, letztlich. Marquenet bedauerte, gegen ihre klügere Einschätzung, das Porträt ausgerechnet am – lokalen – Zenit ihres Erfolges anfertigen lassen zu haben: von da brauchte es vorläufig keine vorschnelle Alterung abzufedern. »Wer oben steht, tritt nicht mehr auf andere.« Doch das wird nur in der Rückschau evident, ihr retrospektives Bedauern ist subjektive wie objektive Dummheit. Damals handelte sie völlig rational, dass sie sich gerade im Aufwärtstrend konservieren wollte. Das Porträt würde bald genug seine Funktion beweisen müssen.

Das reizte Doris Mar­que­net an der Vision des Dorian Gray: das Innen­leben vom Außen zu ent­koppeln.

Ihre Fassade konservieren. Nur ihre Fassade, unter allen Umständen. Das reizte Doris Marquenet an der Vision des Dorian Gray: das Innenleben vom Außen zu entkoppeln.

A' #

Als Doris Marquenet dreiunddreißig Jahre alt war, ließ sie sich Entkoppelung war ein Leitprinzip für Doris Marquenet. Als Investmentbankerin, überhaupt: als Frau war Doris Marquenet allerdings längst gewohnt, emotional neutral aufzutreten. Wer lernt, drei Tage im Monat seinen Schmerz nicht zu zeigen, lernt es bereits für dreißig Tage im Monat. Die restlichen sieben Tage des Jahres kann man weinen. Allein. An einem freien Wochenende.

Wechselwirkungen von Innen und körperlicher Erscheinung, dem Gesicht gar, zu schweigen von permanenten Effekten auf einer der beiden Seiten, hatten in ihrem Bild von der Welt keinen Platz. Dennoch: nach ihrer ersten Abtreibung hatte Marquenet einen Alterungsschub an sich registriert. Sie konnte ihn damals noch mit ein wenig Jugendlichkeit verrechnen, die umtauschen in Reife. Ein Alterssprung via Kompetenzzuwachs, von 21 auf 23 in einem Quartal, warum nicht. Das menschliche Lernen ist mächtig.

Doch Marquenet war gesprungen worden. Bis dahin hatte sie sich entworfen als eine, die handelt, die nicht mehr missbraucht werden würde, als erste in ihrer Familie und eben als Folge des Abschieds aus dieser Familie. Die Illusion ging verloren. Was ein Mal geschehen ist, geschieht wieder. Und wieder. Jede Generation hat Anekdoten von misshandelten Frauen, von an- wie abwesenden Männern, von Unterwerfung unter härtere Bedingungen als Marquenets. Sexuell, emotional, sozial oder ökonomisch. Wie weit müsste ein Stammbaum zurückverfolgt werden, um einer Frau zu begegnen, die nicht von Missbrauch gezeichnet ist, auf die eine oder andere Weise. Das ist keine Frage.

Wie weit müsste ein Stamm­baum zurück­ver­folgt werden, um einer Frau zu be­ge­gnen, die nicht von Miss­brauch gezeichnet ist, auf die eine oder andere Weise. Das ist keine Frage.

Ihre Frage lautete: war je eine ihrer Vorfahrinnen nicht auch Täterin? Wenn ja: wie trat die auf mit zwanzig, mit fünfunddreißig, mit fünfzig? Das ist keine Frage, die ein Porträt zu beantworten vermag, das nur eine Person zeigt.

So konnte Nataša Ašatankovičs Porträt nicht einmal diese erste Funktion erfüllen: eine Frau ohne Spuren des Missbrauchs zu konservieren. Fremden und eigenen Missbrauchs.

Doris Marquenet akzeptierte die Fakten: zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn hatte sie einen Invest mit Verlust. Diesmal total.

- In the afternoon, right, Doris Marquenet?

- True. Three minutes to four p. m.

- Triple witching hour.

– Yes, indeed.

- Then it might even work, Doris Marquenet.

Hat es nicht.