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Stomatopoda

In der PDF-Fassung ist das stimmiger und sinniger gesetzt. Lesen Sie am besten die.

Szene 1 #

In der Mitte einer dunkelparkettierten Theaterbühne steht ein Spielzeugbauernhof, mit allem Drum & Dran: Scheune, Bäume, Schweine, Gebeine für den Hund von den drei letzten Schlachtungen. Schafe. Grüner Mattenkunststoff stellvertritt Weidengras auf der gesamten Holzplattenfläche von 123 mal 87 Zentimetern zum Quadrat. Ein Zaun außenrum mit einer Höhe von 73 Millimetern und einer Dicke von 4100 Mikrometern, zusammengesteckt aus Bauteilen mit einer Breite von 0,072 Zentimetern. Die Bauteile des Zauns haben keine Länge.

Das Bauernhaus mit dem Hof ist eher im Westen des Spielzeuggrundstücks platziert, hinter ihm in Richtung der westlichen Zaunteile ein Misthaufen, zu seiner nördlichen Seite ein Teich aus transparenter Kunststofffolie und ein paar Kunststoffstielen, die Schilfrohr vertreten. Gen Süden führt vom Hof weg, aber auch zum Hof hin, eine Zufahrtstraße zum einzigen Torstück im Zaunbau. Östlich des Hauses, fast im Zentrum der Platte, steht auf dem grünen Mattenkunststoff ein winziger Spielzeugbauernhof, an dem unbeweglich ein Lamm aus Hartkunststoff sitzt. Es trägt eine karmesinrote Baseballmütze aus Hartkunststoff, um seinen Bauch ist weißer Wollfaden gewickelt. Das Weiß ist nicht rein. Der Wollfaden hat eine Länge, wohldefiniert, aber das Schaf kennt sie nicht.

Schubert das Schaf auch nicht. Es schneidersitzt in der Mitte einer Theaterbühne an der Südkante des Bauernhofs mit Blick in einen theatralisch gemalten Sonnenuntergang nach Westen, welcher im Norden des Bauernhofs liegt, sein rechtes hinteres Knie nicht weit von der spielzeugsüdlichen Hofausfahrt geknickt. Der Sonnenuntergang ist auf eine große weiße Leinwandprojiziert, man weiß nicht woher. Auch im Norden und Westen hängen große weiße Leinwände mit projizierten Landschaftsteilen: ein flache Steppe in Mecklenburg-Vorpommern, am Horizont nur der Horizont.

Auch im Norden und Westen hängen große weiße Lein­wände mit pro­ji­zier­ten Land­schafts­teilen: ein flache Steppe in Meck­len­burg­-Vor­pom­mern, am Hori­zont nur der Hori­zont.

Schubert das Schaf trägt eine hellrote Wollmütze mit einem dicken dunkelroten Wollbommel, alles ein wenig verfilzt von vielen warmen Wintern. Es spielt mit einem Traktor auf dem Hof des Spielzeugbauernhofs, an dessen Südseite er sitzt, im Osten der Bühne. Schubert ist männlich und Rechtshufer. Den Traktor rollt er spielerisch schlingernd auf das Spielzeugschaf an der Spielzeugbauernhofminiatur zu, in seinem Rücken aus Hartkunststoff. Trotz des dröhnenden Traktormotors bemerkt das Lamm Schuberts Traktor nicht.

Schubert:
BRRRRrrrrröööö-ö-ö-böbb-böbb-b’b-bb’b-b-br-rrrr rrbrbrbrrr
röööööööööö-
öö-
ööö-
ö-
ö-
ö-
ö-
ö-
ömmm
mm……!
………!!
……!!!

Eine Kamera senkt sich langsam von oben an einem metallenen Arm, etwa mittig über dem Spielzeugbauernhof, ungefähr über dem Miniaturspielzeugbauernhof. Schubert löst den Schneidersitz und stützt sich auf den linken Huf, um über die linke Schafschulter nach Süden zu schauen, wo das Publikum sitzen wird.

Schubert
Mähen. Immer mähen.

Auf einen Schlag wird es dunkel: das Bild des Himmels verstummt, die Projektionsleinwände leuchten schwach nach. Aus dem Süden strahlt ein Projektor den Spielzeugbauernhof mit dem Miniaturspielzeugbauernhof an die Wand, live aufgenommen von der Deckenkamera, 1,7facher Zoom. Wo Schubert wieder schneidersitzt, jetzt mit dem Gesicht zum künftigen Publikum, ist der Anriss seines Kopfes mit dem Wollbommel als Schatten an der Wand dunkel ausgespart.

Schubert (im Falsett)
Mit Sensen mäh’n.
Mit Mähwerk mäh’n.
Hauptsache Mäh’n!

Kunststoffschaf (unbewegt)
Das müsst ein schlechter Landwirt sein …

Chor (aus dem Bauernhaus)
… dem niemals fiel das Mähen ein!

Schubert
Nicht mehr als Mää-hä-hän??!? (Hustet. Gleichzeitig:)

Chor (knödelt)
Das Mää-hä-hänn!

Schubert steht auf. Sein Schatten wächst zentral auf der Nordleinwand im Rücken des Spielzeuglamms aus Hartkunststoff.

Trotz des dröh­nen­den Traktor­motors be­merkt das Lamm Schu­berts Trak­tor nicht.

Auf Schuberts weißem Fell reflektiert der Miniaturspielzeugbauernhof, um ihn herum koroniert der Spielzeugbauernhof an der Wand im Grün des Mattenkunststoffs, der das Weidegras repräsentiert.

Schubert (schreit)
Ich will määäh-hä-häää-hähr!! määäh-hä-häää-hähr!
määäh-hä-hääähäää-
ää-
äää-
ä-
ä-
ä-
ä-
ä-
ä-
ä-
ähr!
………!
………!!
……!!!

Schubert schreit. Sein Maul ist weit aufgerissen. Er hat schier endlos Atem für den Schrei.

Durchs Publikum fährt eine Steadycam langsam auf Schubert zu, geführt von einer ganz in weißem Marlenehosenanzug gekleideten, sehr bleichen Frau Ende 20 mit pechschwarzem Bob. Die Kamera fokussiert Schuberts Schädel, der live projiziert wird an die West- und Ostleinwände, nur das Gesicht, stark vergrößert. Schuberts Maul ist dreimal zu sehen, einmal lebens-, zweimal überlebensgroß, ein Spiegelkabinett ohne passive Spiegel, sondern mit aktiver Kameraarbeit.

Plötzlich fällt ein Vorhang vor die gesamte Szene, mattengrasgrün, darauf mit weißer Schrift, einer serifenlosen Mr. Eaves XL die Aufschrift »Chräsa. Der Grasersatz. Grüner als Gras.«

Ein Spie­gel­kabi­nett ohne passi­ve Spie­gel, son­dern mit akti­ver Ka­me­ra­ar­beit

Aus dem Off ertönt eine tiefe, sehr hallig verstärkte Männerstimme, die jedem und jeder bekannt vorkommen wird, auch wenn sie sie noch nie gehört haben sollte.

Off
Grüner als Gras:
Chräsa.

Der Vorhang geht hoch. Schubert steht da, wieder vor der Bauernhoflandschaft, wieder nach Westengewandt in den Sonnenuntergang, wieder mit Blick nach Süden, wo das Publikum sein wird. In seinem rechten Huf ein angebissener mattengrasgrüner Riegel aus gepressten Pflanzenfasern, in einer siloartigen Musterung. Schubert lächelt tiefenentspannt, schluckt und atmet tief aus.

Schubert (senkt den Blick auf den Riegel in seiner Hand)
Grüner als Gras: (hebt den Blick wieder zum künftigen Publikum)
Chräsa.

[ Fortsetzung folgt. ]