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In der PDF-Fassung ist das stimmiger und sinniger gesetzt. Lesen Sie am besten die.

Regisseurin
… so dass jedes Drehbuch seine Verfilmung bereits mitmeint: beim Lesen ist die Inszenierung schon zu sehen, in einem normative Sinne. Die Leserin wird zur Regisseurin – nicht via Identifikation, sondern via Kreation.
Diese Asymmetrie muss der Film aushalten. Sie ist eines der wenigen Momente in der Schnittmenge der verschiedenen Gattungen, in dem die Literatur – als die Kunst des 18. Jahrhunderts – heute dem Film – als der Kunst des 20. Jahrhunderts – noch überlegen ist. Nicht nur als reine Möglichkeit. Sondern als aktualisierte Möglichkeit: als Fakt.

Noch immer der Kinosaal aus Szene vier. Totalperspektive von hinter der letzten Sitzreihe, etwa einen Meter über dem Kopf der größten Zuschauer/in zuflüchtend auf den linken Stuhl einer Gruppe von drei besetzen Stühlen und einem niedrigen Metalltisch auf einem Podium unter der Kinoleinwand, das in einer Höhe von 29 cm ab Boden des Kinosaales fest installiert ist. Das Podium ist verkleidet mit dunkelgraufastschwarzem Teppichfilz. Der Metalltisch steht zwischen dem linken und dem mittleren Stuhl. Auf dem linken Stuhl sitz Schubert das Schaf breitbeinig und zurückgelümmelt, ein ausgeschaltetes Neumann KM184 in seiner rechten Hand. Auf dem mittleren Stuhl sitzt die Regisseurin sehr aufrecht, das Steißbein knapp hinter der Vorderkante der Stuhlfläche, ein aktives Neumann KM184 in ihrer rechten Hand, frontal dem Publikum zugewandt. Beim Sprechen wendet sie gelegentlich den Kopf für eine halbe Sekunde zur Moderatorin zu ihrer Linken, anschließend jedes Mal wieder nach vorne zum Publikum. Auf dem rechten Stuhl sitzt eine Frau Anfang 60 in taubenblauem Kostüm mit einem Bleistiftrock und einem schmal geschnittenen Blazer mit hohen Schulterpolstern. Sie hält sieben Karteikarten in ihrer rechten Hand, diese liegt auf ihrer linken Hand, die ein Neumann KMS 105 hält und bis jetzt in ihrem Schoß liegt. Jetzt zieht die Frau die linke Hand unter der rechten Hand hervor und hebt sie mit dem Mikrofon zum Mund, so dass sie sich den Zuschauer/innen in Erinnerung ruft als Moderatorin:

Moderatorin
Vielleicht verstehe ich den Unterschied nicht im Detail: schaffen denn die Regieanweisungen von dramatischen Texten und Drehbüchern nicht die inszenierte Realität schon vorweg, ohne bereits realisieren – im Sinne der französischen réalisation – zu müssen?

Regisseurin
Die Beschränkungen von Freiheiten schafft diese nicht ab.

Schubert das Schaf schnaubt leise. Vernehmlich, trotz der Hintergrundkulisse aus Publikumsgeflüster, Scheinwerfersummen und Mikrofongrundrauschen. Das Schnauben geht über in ein kehlig-verschämtes Blöken und endet in einem geseufzten Räuspern. Währenddessen warten Zuschauerinnen und Moderatorin noch auf weitere Ausführungen der Regisseurin, die jedoch elf Sekunden ausbleibt, so dass die

Moderatorin (mit Blick auf die Kinosessel und ausholender Geste mit der rechten Hand, die sie zum Abschluss an die Augenbrauen setzt zum Schutz gegen das Blenden der grellen Schweinwerfer, deren linker fast genau in einem Winkel von nur 75° Bogengrad in ihr Gesicht strahlt.)
Wir übergeben das Mikrofon an dieser Stelle dem Plenum – haben Sie Fragen an Irene oder an Schubert das Schaf, zum Film oder zu ihrer Arbeit allgemein?

Einige linke und rechte Arme gehen hoch, während eine junge Frau mit langem schwarzem, zu einem Dutt hochgesteckten Haar und je einem Mikrofon in ihren Händen, jedoch von verschiedenen Herstellern. Auf Höhe der siebten Saalreihe geht sie von links drei Stühle nach innen und reicht über die Körper von zwei Zuschauerinnen hinweg ein Neumann KMS 105 mit königsblauem Schaumstoffaufsatz an einen Mann Mitte dreißig mit Nickelbrille und straßenköterblonden Krauslocken, der das KMS 105 weiterreicht an seine Platznachbarin zur rechten.

Platznachbarin des Mannes mit Nickelbrille und Krauslocken
Danke zunächst für diesen außergewöhnlichen Film. Auf dem Papier klang er ziemlich hölzern, offen gestanden, und man musste mich fast an den Haaren hier hereinschleifen. Aber es hat sich gelohnt, finde ich. Mir stellen sich einige Fragen, aber was mich vor allem noch interessiert hätte ist der Rückgriff auf die verschiedenen Funktionen der Protagonist*en im Film. Sind sie zu verstehen als eine Person, also jeweils, also als zwei Personen insgesamt, die sich durch die verschiedenen Filme im Film durchziehen, oder geht die Intention mehr in die Richtung vom Multiverse, Sie kennen das ja wahrscheinlich, wo wir es mit verschiedenen möglichen Versionen oder auch Entwicklungsstufen der Figuren zu tun haben, die zwar theoretisch eine und dieselbe sind, aber praktisch eben ganz verschiedene Menschen, ganz verschiedene Personen, so verschieden voneinander, wie sich eben ihre Stellung in der Welt oder in der Gesellschaft vielleicht von der der anderen – ja ich sage mal: der anderen Inkarnationen unterscheidet?

Schubert das Schaf schnaubt im Saal vernehmlich. Das Schnauben geht über in ein kehlig-knurriges Blöken und endet in einem verhusteten Seufzer. Währenddessen beginnt die Regisseurin bereits ihre Antwort:

Regisseurin
Das ist eine sehr gute Frage. Wir sollten – –

Schubert das Schaf
Die Frage ist nicht gut, sondern faules Gewäsch.

Regisseurin (rollt mit Blick über ihre rechte Schulter mit den Augen und schüttelt den Kopf, während sie sich wieder dem Publikum frontal zuwendet.)
Die Einbettung ins Multi– –

Schubert (zur Regisseurin)
…hat gar nichts zu tun mit unserem Film. (Schüttelt den Kopf beim Senken des Blicks.) Wie du weißt. (Ans Publikum gerichtet, kurz blinzelnd im Scheinwerferlicht, sich dann fassend und die Augen geradeaus gerichtet:) Wenn Sie hier eine Diskontinuität von Welten und von Personen reindeuteln wollen, haben Sie nichts verstanden. Oder alles falsch.

Moderatorin
Du wirst zugeben, dass die beiden Protagonist*innen keine klassischen durchgängig psychologisierten und bruchlosen Figuren sind, Schubert?

Schubert das Schaf schnaubt vernehmlich.

Schubert das Schaf
Nein, das gebe ich nicht zu. Hören Sie auf, auf jedes in Ansätzen noch ungesehene künstlerische Phänomen mit der Keule einzudreschen, es handle sich um etwas Disparates. Gezeigt werden Ausschnitte aus einem Leben, nicht anders als uns aus dem Leben von Heinrich Faust oder Michel Poiccard nur Ausschnitte bekannt sind. Wen kennen wir schon total? HAL 9000 vielleicht, weil er als eine Totalität eingeführt wird und deshalb – und nur deshalb – als eine solche Totalität betrachtet werden kann.

Regisseurin
Die Frage ist schon deshalb sehr gut, weil sie dir das Maul öffnet.

Gelächter im Publikum. Die Moderatorin blickt prüfend die Stimmung, schaltet ihr Mikrofon aktiv und dominiert das Publikumslachen mit einem in vier Stößen geschnaubten Schmunzeln.

Schubert das Schaf
Die geläufigen Multiverse-Geschichten sind denkfaule Köttel. Sie stellen die Integrität ihrer Figuren über die Weltverläufe hinweg nicht in Frage. Die eigentlichen physikalischen bis psychologischen Themen verdeckt in der Regel ein Kleister von Flachwitz.

[ Teil 2 von Szene fünf und weitere Fortsetzung folgt. ]