Zum Hauptinhalt springen
Stomatopoda

In der PDF-Fassung ist das stimmiger und sinniger gesetzt. Lesen Sie am besten die.

Szene 3 #

Drei Männer Mitte vierzig in kurzer, hautenger Sportkleidung im Orange sizilianischer Orangen aus einem sonnen- und wasserreichen Jahr traben im Gleichschritt nebeneinander. Man sieht sie von hinten. Sie sind jeweils 1,83 Meter groß und haben kurzes glattes Haar, der linke Läufer dunkelblondes, der rechte Läufer graues, der mittlere Läufer rotblondes. Im rechten Ohr der Läufer ist jeweils ein weißer In-Ear-Kopfhörer. Jeder hat einen Selfiestick vor sich, der jeweils an ihren Schultern befestigt ist mit einer Vorrichtung, die an einen Babybeutel erinnert, allerdings aus Hartplastik an Gurten aus Nylon; von hinten sieht man von der Vorrichtung nur die Gurte um die Schultern, der Verschluss ist vor der Brust. Technisch sind die Selfiesticks identisch, nur die Länge, Farbe und Winkel der Stangen unterscheiden sich: der mittlere Läufer hat eine vergoldete Stange von 1,0 Metern an sich im Winkel von 90°, der von hinten betrachtete linke Läufer hat eine bronzenfarbene Stange von 1,5 Metern an sich im Winkel von 135°, der von hinten betrachtete rechte Läufer hat eine silberfarbene Stange von 1,25 Metern an sich im Winkel von 45°. Am Ende jedes Selfiesticks ist ein schwarzes Smartphone aus chinesischer Produktion mit einem 6,2 Zoll großen Bildschirm montiert. Das Smartphone des rechten Läufers zeigt die Regisseurin & Kamerafrau aus dem Schlussbild von Szene 2. Das Smartphone des mittleren Läufers zeigt die Regisseurin in einem grünen Sporttrikot. Sie scheint selbst zu laufen. In ihrem Rücken ist zu Beginn die U-Bahn-Station am Rosenthaler Platz in Berlin zu sehen. Das Smartphone des linken Läufers zeigt ein Standbild von Schubert dem Schaf mit einem Chräsa-Riegel aus dem Schlussbild von Szene 1. Hinter den Selfiesticks sind einige andere Läufer:innen zu sehen, in einiger Entfernung der Springbrunnen am Strausberger Platz.

Mittlerer Läufer
Wir sehen das Publikumspotential offen gestanden nicht. Die Postmoderne rutscht in manche Gewohnheiten, gewiss. Aber sie klebt an Namen, nicht an Stoffen.

Rechter Läufer
Sie braucht Stars und ihre Gesichter.

Linker Läufer
Mehr als die Moderne.

Mittlerer Läufer
Schubert hat kaum einen Namen, Berberova gar keinen.

Regisseurin
Schubert ist ein großer Name.

Mittlerer Läufer
Als Name eines anderen.

Regisseurin
Jeder Name fing ohne Hall an. Widerhall macht einen Namen zum gemachten, in der Zeit, mit der Zeit. Wir bedienen uns des Wieners breit eklektisch, auch wenn wir kleineres Brot backen.

Mittlerer Läufer
Brötchen?

Regisseurin
Weitere Verniedlichung ist nicht nötig. Das Schaf bringt sie von Natur aus mit.

Hinter den Selfiesticks ändert sich der Ausblick, die Läufer biegen in den Kreisel am Strausberger Platz ein. Vor den drei Läufern ballen sich andere Läufer:innen.

Mittlerer Läufer
Und spricht das junge Publikum an. Die Musik ist demnach romantisch?

Regisseurin
Zeitgenössische Adaptionen: Rap, Pop, Chanson, Post-Punk, allesamt mit Quasizitaten durchsetzt.

Die drei Läufer biegen nach Süden auf die Lichtenberger Straße und scheren einige Schritte nach Osten aus. Auf der weniger belaufenen Spur ziehen sie an einem Dutzend Läufer:innen aus der Ballung vorbei, sie passieren, aber ignorieren einen Versorgungsstand, der linke Läufer dreht sich kurz über die rechte Schulter. In diesem Moment wechselt die Perspektive auf die Frontseite der drei Läufer, man sieht ihre Gesichter zwischen den drei Selfiesticks. Die Kamera rollt vor ihnen. Im Hintergrund wird der Strausberger Platz allmählich kleiner.

Mittlerer Läufer
Wer verdient am restlichen Merchandise?

Regisseurin
Es gibt kein anderes. Nur den Riegel.

Mittlerer Läufer
Gar keins? Das kann nicht funktionieren.

Regisseurin
Bei Calvin & Hobbes hat es funktioniert.

Rechter Läufer
Verschenktes Geld.

Linker Läufer
Verpasste Leser:innen.

Regisseurin
Keine Konkurrenz. Fokus auf den Film.

Mittlerer Läufer
Mit Merchandise hätte es mehr gebracht.

Regisseurin
Auf lange Sicht. Die kurze ist die des Verleihs.

Mittlerer Läufer
Lass uns kurz nachdenken, Katja. Ich schalte dich auf Frontkamera. Wir melden uns noch vorm Kottbusser Tor.

Die Kameraperspektive wechselt wieder in den Rücken der drei Läufer. Im Rücken der Regisseurin auf dem mittleren Smartphone sieht man den S-Bahnhof am Alexanderplatz kleiner werden. Die Umgebungsgeräusche werden lauter, dominieren die Kulisse. Die Regisseurin trinkt aus einem Pappbecher, schüttet dann den Rest des Inhalts über ihren Kopf. Zwischen den Smartphones kommt die Michaelbrücke in den Blick. Und wieder aus dem Blick. Zur Rechten ruckelt das Vattenfall-Kraftwerk vorbei, als die drei Läufer in die Köpenicker Straße abbiegen und das Kraftwerksgebäude wieder rechts ins Bild ruckelt und wieder vorbei. An der Kreuzung mit der Heinrich-Heine-Straße stehen Passant:innen dicht geballt und applaudieren zu anfeuernd gemeinten Rufen.

Mittlerer Läufer
Du hast Recht. Wir bringen Chräsa bundesweit in die Kinos. Ostern steht noch als Wunschtermin?

Regisseurin
Ja. Deal?

Mittlerer Läufer
Deal. Der Titel ist übrigens gut, er klingt:

Der linke Läufer dreht den Kopf etwa 60° nach rechts. Der rechte Läufer dreht den Kopf etwa 60° nach links. Beide ziehen die Augenbrauen hoch und öffnen die Augen weit.

Alle drei Läufer synchron
Chräsa.

Die drei Läufer laufen wortlos nebeneinander weiter, man sieht sie von hinten, alle drei blicken nach vorne. Das Smartphone des rechten Läufers zeigt noch immer die Regisseurin & Kamerafrau in einem Standbild aus dem Schlussbild von Szene 2. Das Smartphone des mittleren Läufers zeigt das Logo der Firma High Rise Film Productions: einen gold-silber-bronze-gestreiften horizontalen Balken mit einem am rechten Ende auf ihm aufsetzenden turnbeschuhten Bein und dem von der linken Kante des Balkens auf den Turnschuh zulaufenden Namen High Rise Film Productions. Das Smartphone des linken Läufers zeigt noch immer ein Standbild von Schubert dem Schaf mit einem Chräsa-Riegel aus dem Schlussbild von Szene 1.

[ Fortsetzung folgt. ]