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Stomatopoda

Brav­er nun in der Tind­er­welt

·1291 Wörter

Sie hatten sich gefunden, doch dann waren sie „weg“. Jeder für den anderen: weg. Von einer flop auf die andere: WEG.

Vermutlich nicht ganz synchron, da ihre Android-Smartphones den neuen Gesprächsstatus erst von einem der Tinderserver erhalten mussten und da der neue Status erst vom einen zu den verschiedenen anderen Tinderservern propagiert werden musste. Das tat für beide nichts zur Sache. Nur das Weg zählte noch. Maik Bergers WEG von Tinder, in dem sein Weg auf Tinder kulminierte. Der Lauf der Dinge in den Kalauer.

Maik hat kein Konto mehr, post-mortem über Support, hatte schon vorher zwei temporary bans zu je drei Monaten erhalten, nach je 111 Beschwerden. Dieses war Maiks dritter ban. Er würde ein Jahr dauern. Ewig, in Zeiten des beschleunigten datings. Maik hatte ihn kommen sehen, jedoch noch Luft kalkuliert. Plötzlich Aufgrund eines Programmierfehlers. Eigentlich sollte erst die 111. Beschwerde eine Blockade auslösen. „1 Jahr Quarantäne“.

Birger und Maik hatten sich auf Tinder gefunden. Gegen alle Wahrscheinlichkeit & gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Wir vergessen im Alltag, wie fragil viele Wahrscheinlichkeiten sind. Jeder Datenpunkt zählt. Jeder Flügelschlag des Algorithmus. Jedes Mitglied wird zum Datenpunkt, jeder Wisch ein Flügelschlag eines Schmetterlings, nach links oder nach rechts.

Für Birger Mohn zählten die Beschwerden der anderen Tindermitglieder bis zum 23. Mai 2023 nicht. Er hatte verstanden, dass Maik nur mit seinen verdrucksten Schlüpfrigkeiten und seinem offenen Faschismus zu haben ist, er hatte verstanden, dass Maik den Konsum von Pornographie so selbstverständlich findet, dass er ihn zum ersten Date in ein Pornokino einladen würde, gäbe es denn noch Pornokinos. Er hatte Maiks Legasthenie akzeptiert und war gewillt, Maiks fränkischen Dialekt zu ertragen in der Hoffnung, der sei in echt nicht so dominant wie in seinen Sprachnachrichten, schließlich. Er hatte akzeptiert, dass Maik ihn schon im zweiten Gespräch nach seinem monatlichen Einkommen gefragt hatte, er hatte verstanden, dass er entweder pleite ist oder geizig. Geld hatte er selbst, Sex manchmal auch. Bloß eine Beziehung hatte Birger nicht. Noch nie. Und hier war einer, der mit ihr eine Beziehung versuchen wollte. »Versuchen kann man’s ja. Ohne Garantie. Die gibt’s nur im Elektromarkt.« Und dort gibt’s auch nur zwei Jahre Garantie. Mit neunzehn ROFL-Emojis hatte Maik geantwortet: »🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣« Neunzehn. Wie das Durchschnittsalter der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam. Laut Paul Hardcastle. Birger hatte das behauptete Durchschnittsalter der US-amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg nicht verifziert. Der Gedanke kam ihm nicht. Auch Maik kam der Gedanke nicht. Der Gedanke hätte nicht gezählt. Was zählte: neunzehn ROFL-Emojis stellten einen Rekord dar. Zumindest seinen persönlichen Rekord. »19 emojis! das ist mein persönlicher record!!!« »ds tope ich nach?« »mach« »kuk: 🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣« Maik hatte Humor. Zumindest hatte Maik Teile von Birgers Humor.

Nun war Maik das Lachen vergangen. Nun war auch Birger das Lachen vergangen.

Maik Berger verfluchte Birgers Demisexualität. Birger wollte erst dann einem persönlichen Treffen zustimmen, wenn sie eine gewisse emotionale Verbundenheit hergestellt hätten. Maik wollte ficken, um die Produktion von emotionaler Verbundenheit zu beschleunigen. Als aktiver Schwuler hatte er einen anderen: einen aktiveren :Zugang zu emotionaler Verbundenheit als Birger. Sie hätten sich längst treffen und ficken und das temporary ban auf Maiks Tinder-Konto ignorieren können, wäre Birger ein um auch bloß ein weniges aktiverer Schwuler gewesen.

Birger Mohn verstand nicht, wieso Maik ihr match löschen wollte. Er formulierte: »wie Maik das match löschen konnte«. Ihm war allerdings klar, wie leicht das Löschen eines matches war. Er hatte selbst bereits mehrere matches gelöscht, das meinte er nicht. Er meinte nicht ›konnte‹, er meinte ›wollte‹. Präzision war ihm verwehrt mangels Information. Die einzigen Informationen zu seiner Verfügung gruppierten sich um die gewisse emotionale Verbundenheit zwischen ihm und Maik. Sie war schnell entstanden. War sie noch schneller vergangen? Würde Birger Maik je sprechen?

Maik Berger gab nicht sofort auf. Selbstverständlich gab er nicht sofort auf. Die Lösung schien trivial: ein neues Mitgliedskonto zu erstellen. Er deinstallierte die Tinder-App von seinem Android-Smartphone, installierte sie neu und begann, ein Konto zu erstellen. Ohne Erfolg: ein neues Konto konnte auf diesem Telefon nicht erstellt werden, da dessen Nummer wegen eines Eintrags in der banned list vorübergehend blockiert wurde für die Dienstleistung von Tinder. Das temporary ban endete in 364 Tagen und 23 Stunden und 51 Minuten. Falls man einen Systemfehler vermutete, mochte man sich an den Nutzerinnensupport von Tinder wenden und den mutmaßlichen Systemfehler melden. Es handelte sich nicht um einen Fehler der Serversoftware von Tinder. Alternativ konnte Maik ein Konto mit alleiniger Verknüpfung zu einem FaceBook-Konto erstellen. Maik gab nicht auf. Er hatte sein FaceBook-Konto nicht eingesetzt zur Verifikation des gesperrten Tinderkontos. Also ging Maik diesen Weg. Der ihm versperrt wurde: für das verwendete mobile Endgerät: ein Smartphone :lag ein Sperreintrag in der Datenbank von Tinder vor, so dass die Erstellung eines neuen Tinder-Kontos auf diesem Gerät vor der Aufhebung des temporary bans nicht zugelassen wurde. Das temporary ban endete in 364 Tagen und 23 Stunden und 49 Minuten. Falls man einen Systemfehler vermutete, mochte man sich an den Nutzerinnensupport von Tinder wenden und den mutmaßlichen Systemfehler melden. Es handelte sich nicht um einen Fehler der Serversoftware von Tinder. Doch Maik gab nicht auf. Er legte ein neues Konto bei FaceBook an, unter einer weiteren seiner E-Mail-Adressen. Das war es Maik wert. Es war bereits das vierte Mitgliedskonto, das er auf FaceBook erstellte. Für dieses Konto fälschte Maik Berger nicht einmal seine persönlichen Angaben: des Kontos einziger Zweck war die Verbindung mit Birger, der seine persönlichen Angaben gerne übermittelt bekommen mochte. FaceBook blockte die Neuregistrierung eines Kontos, da die zur Verifikation eingesetzte Mobilnummer bereits mit einem anderen Konto verknüpft war. Also besorgte Maik am nächsten Morgen einen neuen Mobilfunkvertrag, um eine neue Mobiltelefonnummer zu bekommen. Er würde diese neue Nummer nur für die Erstellung eines neuen FaceBook-Kontos benutzen, aber die 9,99 € Gebühren für den ersten Monat der Nutzung des Prepaid-Vertrags mit einer bekannten europäischen Mobilfunkfirma mit Sitz in Düsseldorf war die Bekanntschaft mit Birger Maik Berger wert. Die neue Mobilfunknummer blockte jedoch einer der Server von FaceBook mit dem Verweis, der Inhaber der Mobilfunknummer sei identisch mit dem Inhaber einer anderen Mobilfunknummer, zu der bereits ein FaceBook-Konto existiere, bei Fehlern möge man FaceBook schriftlich benachrichtigen und das mutmaßliche Missverständnis melden. Es handelte sich nicht um ein Missverständnis oder einen Fehler der Serversoftware von FaceBook. Und es schien Maik Berger nicht relevant: mit der neuen Telefonnummer würde er ohne den Umweg über FaceBook ein Tinder-Konto erstellen. Er täuschte sich: bei der Kontoerstellung auf Maiks Android-Smartphone übermittelte die Tinder-App die International Mobile Equipment Identity des Geräts. Diese hatte die Tinder-Serversoftware bereits mit dem gesperrten Tinder-Konto von Maik Berger verknüpft. Für dieses Konto lag ein Sperreintrag in der Datenbank von Tinder vor, so dass die Erstellung eines neuen Tinder-Kontos auf diesem Gerät vor der Aufhebung des temporary bans nicht zugelassen wurde. Das temporary ban endete in 363 Tagen, 14 Stunden und 56 Minuten. Falls man einen Systemfehler vermutete oder das gemeldete kompromittierte Gerät nach einem oder mehreren Wechseln der Eigentümerin nicht mehr von der Eigentümerin des gesperrten Tinder-Kontos benutzt würde, mochte man sich an den Nutzerinnensupport von Tinder wenden und den mutmaßlichen Systemfehler melden. Es handelte sich nicht um einen Systemfehler der Serversoftware von Tinder. Maik Bergers Smartphone hatte den Eigentümer nicht gewechselt.

Maik Berger und Birger Mohn lebten dennoch weiter. Nichts an ihrem Umfeld hatte sich geändert. Wenig an ihrem Alltag hatte sich geändert: beide begegneten der Welt um ein weniges verbitterter als zuvor.

Gegen jede Wahrscheinlichkeit war Birger der Mann für Maiks Leben. Gegen jede Wahrscheinlichkeit war Maik der Mann für Birgers Leben.

Maik Berger kam nicht an gegen die Algorithmen der Welt, gegen die Statistiken seiner letzten Jahrzehnte. Es gibt ihn: den Punkt, an dem der Lauf der Dinge unumkehrbar geworden ist. In seinem Selbstbild hat er die Versuche bis heute nicht aufgegeben. Aussicht auf Erfolg hat er keine.

Maik Berger wird Birger Mohn nie ficken.