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Stomatopoda

Cringe (Fort­set­zung und Schluss)

Eine Lukas-Geschichte (Fortsetzung)

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3 #

- Bonjour, Monsieur Hecht!

- Bonjour, Madame! Mais c’est Lukas pour vous, est-ce que vous avez déjà oublié?

- Bien sûr, Lü-Ka.

Nicht nochmal kichern. Die Pubertät vergeht nicht. Salomés noch lange nicht:

- Lou-Casse-sssS, Madame Lallier. ›Lukas‹!

So früh beißen die Stuten heutzutage schon, soso. Mit elf. Oder zwölf.

- Bof, désolé – mon métier, c’est l’anglais, pas l’allemande.

- Pas de problème, Madame. C’est mignon, cet accent.

Salomé zischelt nochmal und beugt sich zu ihrem Schuhband. Vor den Kindern lieber alt und förmlich. Gerade im Theater mit seiner Freizeitattitüde. Das Kumpelhafte nagt sich in den Schulalltag ein, wird die Distanz nicht zuweilen betont. Wie beim Deutschlehrer mit seinen Schulbasketballern. Dessen ist Lallier völlig unverdächtig, zumal sie „von Hause" wenig Autorität haben dürfte, zierlich wie sie ist. Und jung. Keine dreißig, wohl. Zumindest bei den Proben in skinny jeans, maximal Größe 25, (gibt’s die überhaupt kleiner?) in Schuhen, die Kamila passen dürften, gerade noch eben so, aber mit 5 cm Plateauabsatz, um die Gruppe wenigstens um einen Haaransatz zu überragen. Die Gruppe minus Élise. (Ist die schon größer als ich??!?) Die rote Polyesterbluse als einziges stilistisches Manifest ihrer Exposition, die dünnen Mädchenärmchen optisch verstärkt durch ein Goldarmband mit kleinen Anhängern. Ein Kleeblatt? Ein Schweinchen, ein Würfel. Ein Glücksband von der Oma, die Wette gilt. Unverheiratet, noch, offenbar, trotz der Sommersprossen, trotz der Grübchen ums Lächeln, trotz des schwarzen Push-ups. Oder deswegen. Salomés Lächeln gehört ab sofort Kamila. Die heute ne Fresse zieht, als wolle sie das Stück schmeißen. Die „Wieder Shakespeare!"-Euphorie ist mit den Proben versandet, mitsamt der Madame-Lallier-Euphorie. »So jung! So offen!« Scheint so.

- En fait, je voudrais parler à vous de notre pièce en préparation. Kamila hat kürzlich gebracht eine Vorschlag für die Musik in der endlichen Scène.

- Der Schlussszene, ja. Können Sie das verwenden?

- Oui oui. Sie ist eine wenige – – comment dit-on …? eigen? Aber sie hat gut gepasst.

- ›Bizarre‹, vous voulez dire, n’est-ce pas?

- Mais non! ›Spéciale‹, ungewohnt, pas après les conventions. Mais très interessant.

- Ah oui – merci? je pense?

- Oui oui oui, Monsieur Lukas. Et plus important: Votre musique correspond bien à la scène.

- Merci, vous êtes trop gentille, Laure.

– En fait, je voudrais vous demander: Ça vous dirait de à mettre deux ou trois autres scènes en musique.

- Ah, je comprends. Malheureusement, normalerweise mache ich keine Musik fürs Theater, das war nur für Kamila. Ich bin kein Komponist, sondern Musikwissenschaftler.

- Bien sûr, Lukas. Aber vielleicht das ist eine Vorteil-ö, savez-vous.

- Comment ça, Madame?

- Laure, s’il vous plaît, Lukas. Je suis même plus jeune que vous!

- Avec plaisir, Laure. Alors, comment une avantage?

- Das Stück ist wild. Exuberante, un peu, même insolente. Et Votre musique me le semblait aussi.

- Insolente?

Kamila stöhnt beim Zusammenpacken so laut, als wöge ihr Ranzen 15 Kilo. Laure lässt sich nicht irritieren. Tapfer.

- Exuberante.

- Exuberante, oui. Comme les élèves.

– Oui oui, exactement! Un compositeur professionel ne pourrait pas capturer cette exuberance. Aber der Vater von ein Teenager, der komposiert, kann das gewiss.

– ›Komponiert‹. Aber ich weiß nicht, Laure. Es geht im Theater auch um das Publikum. Um das kümmere ich als Komponist mich wenig.

– Venez, Lukas: ich zeige Ihnen die scènes in dem Skript. Dann urteilen Sie, ob Sie können werden haben eine inspiration.

Das nenn ich forsch, »une inspiration«. Wieder mal eine Zierliche unterschätzt. Hoffentlich ist Kamila noch nicht fertig … Doch ist sie – und grunzt rein optisch die Arme breit, „jaja, zwei Minuten" fuchtle ich diskret. Ihre Augenbrauen wandern gen Saaldecke, überragen die pubertäre Stirn. Ganz BFF legt Salomé den Kopf schief und neckt Kamila einen Schubser ab. Vermutlich auf meine Kosten: Beider Kichern plingt mir in den Nacken, lange vier Minuten.

4 #

- Das habe ich ihr auch gesagt. Sie solle doch Edith Piaf nehmen, die kommt immer gut an. Oder Jacques Brel. Die Eltern und Großeltern mögen elektronische Musik eh nicht.

- Wer ist Jacques Brel?

- Ein Schnulzensänger der Nachkriegszeit.

- Ah.

- 1950er und -60er Jahre.

- Ja ja.

- Das ist nicht böse gemeint. Es passt nur besser.

- Was ist ein Schnulzensänger?

- Ein Kerl mit kitschigen, meistens sentimentalen Liedern.

- Den hast du ihr empfohlen?

- Das ist nichts Schlimmes!

- Die glaubt doch, dass du das ernst meinst!

- Mein ich doch. Brel oder die Piaf – das sind die Rossinis der Gegenwart. Rossini war populär, weil er was konnte. Er war kein Stümper. Er war schlau und ein guter Handwerker, und er kannte den Geschmack der Leute.

- Ein guter Koch.

- Vielleicht.

Schau an, eine Allegorie. Ich hab wieder einen Entwicklungsschritt verschlafen. „Sie werden so schnell groß!" Tatsächlich. Vermutlich bei Shakespeare gelernt. Oder doch im Kino.

- Quand même elle t’as dragué.

- Mais non, elle était juste un peu trop – übertrieben enthusiastisch, vielleicht.

- Oui oui oui, dragué. La salope.

- Arrête, s’il te plaît.

- Elle te plaît?

- C’est pas la question.

- C’est ma question.

- Ich werde sie nicht heiraten, falls du das meinst.

- Au moins …

- Als du drei oder vier warst, wolltest du „später" mich heiraten. „Wenn wir groß sind." Dass ich schon dein Vater bin, ließt du nicht gelten als Bedenken.

- Ja, je me souviens. Du warst immer so allein. Dachte ich. Einsam.

- Damals mehr als jetzt, ja. Du warst eine Vollzeitaufgabe.

- Tut mir leid.

- Ach was – wenigstens warst du früh stubenrein.

- Das sagst du immer.

- Früher hat sie darüber immer gelacht. Es wird nie mehr falsch.

- Wie meinst du?

- Die Vergangenheit bleibt.

- Versteh ich nicht.

- Du kannst die Vergangenheit nicht mehr ändern. Nur die Zukunft.

Nur die Gegenwart. Egal. Zu spät. Zu kompliziert.

- Ich würde dich heiraten. Wenn du nicht mein Vater wärst.

- Ich habe deine Mutter.

- Naja – „haben".

- Du meinst, von Zeit zu Zeit braucht ein Mann auch Sex?

- Auuuuutsch, Pa-ppaaaaaa … Das ist sooooo – – so cringe …!

- „Alter!"

- Ja, „Alter"!! Tu ne peux pas parler comme ça avec ta fille!

- Neuerdings doch. Sie hält sich neuerdings für erwachsen.

- Ha. Ha.

- Ich sie auch immer mehr.

Das schönste Lächeln der eigenen Tochter blüht langsam auf, wenn man sie auf dem falschen Fuß erwischt. Wenn sie nichts mehr zu sagen weiß. Wie es ansteckt …

- Ich lauf jetzt nach Hause. Das wird mir zu cringe hier.

- „Alter!"

Sie läuft tatsächlich los. War ich echt so peinlich, dass ich eine Zwölfjährige in den Sport treibe?

»War ich echt so peinlich?«

Hört mich schon nicht mehr. Oder tut so, als ob. Ne, das nicht. Wir tun nicht so, als ob. Wir nicht. Hoffe ich. Noch. Ist die Ampel rot? Vielleicht. Wahrscheinlich. Egal. Loslassen. Haben wir noch Brot? Wahrscheinlich. Ich hol trotzdem noch eins. Dann kann sie noch verschnaufen. Wir. Dann können wir noch verschnaufen.