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Stomatopoda

»Ausstieg. Links.«

Lichterfelde. Nina schließt ihre digitale Zeitung. So kam sie wenigstens noch zu ein paar Nachrichten über den Stand der Dinge in, keine Ahnung wo, nicht jeder hat eine Tasche so groß wie der Leser. Der vermutlich im Kino war oder im Theater, distinguiert mit Freund*innen ein Glas getrunken hat, nur eins, man will auf dem Heimweg noch eine Sache querlesen für die Arbeit und zuhause noch kurz am Schreibtisch das Quergelesene verwerten, der beste Schlaf ist der nach einem gelungen Abend, und eine gute Tat hat man auch noch getan. Sich’s nicht mal raushängen lassen, lieber Papa im Himmel, heute wärst du wieder einmal besonders stolz gewesen auf deinen Sohn. Nina schüttelt den Gedanken ab, schmunzelt, runzelt ihre Stirn ob des spintisierenden Interesses an dem Mann, man könnte meinen, hier sitze eine Hete, aber der Leser erinnert noch nicht einmal irgendeinen platonischen Schwarm ihrer frühen Pubertät, bevor sie ihre Neigungen zu Männern als ewig platonische besiegelt hat. Überbleibsel aus dem Patriarchat, das sie eigentlich komplett aus ihrem Kopf verbannen will seit je.

Sie steht auf und streift ihren Mantel glatt, das Telefon ins Täschchen und los zum Ausgang.

Der Rheinländer steht schon hinter ihr an, als sein Begleiter ihn verwundert zurückruft: »Nich hier, Dennis, wir müssen noch drei bis zu mir. Mexiko, weißte doch.« »Ne, ne, hier ist gut, Alter, hier ist noch was geboten, ich komm dann nach.« Er drückt noch einen halben Schritt nach vorne, ran an Nina. »Jeder hat sein Plätzchen.« »Lass den Schiet, Alter, was bringt das jetz …« Der Rheinländer reagiert nicht mehr, guckt selbstgefällig auf Nina, die ihm vielleicht wirklich gefällt, aber das ist noch immer allen egal.

In der Scheibe der Tür sieht Nina den Kerl sie fixieren, sein Grinsen verebben, die Augen kalt.

Nina überlegt ihren Weg: der letzte Bus ist weg, also rund 900 Meter Richtung Südwesten zu Fuß, ein Taxi kriegt man hier um die Zeit nicht mehr. Wenn der Typ wirklich Stress machen will, kann er sich locker Zeit lassen.

Hmprmfbchr.

Ka-lunck. Lungungk.

S1 – –

Zurückbleiben bitte.

Die Tür geht auf.

Steigt keiner aus.

Nina tritt einen halben Schritt zur Seite und steigt nicht aus. Keine Zeit für Stress.

Steigt keiner ein.

Der Rheinländer bleibt einfach stehen.

Steigt keiner aus. Keiner ein.

Die Zeit vergeht. Langsam.

Kann man in der langsamer fließenden Zeit rausschlüpfen, während die Tür zu geht, so dass keine zweite Person durchpasst durchs schmal geschlitzte Fensterchen in der Zeit? Nina glaubt, das mal in einem Film gesehen zu haben. Eine Flasche fällt in einen Restmülleimer, drüben rechts in der nassen Nacht. Sie riecht feucht. Frisch. Regnet es. An den Grünen Unterstandspfosten triefen ein paar Bahnen Wasser. Nina konzentriert sich auf das Grün der Kacheln, den Blick halbrechts vor ihrer Schulter arretiert, den Rheinländer theoretisch im rechten Winkel ihres rechten Auges, aber sie schaut durch seinen Schemen hindurch. Da kommt keine Erinnerung auf den Kacheln. Das bleibt ein Gedanke, die Vorstellung einer Möglichkeit. Die sich anfühlt, wie Erinnerungen sich manchmal anfühlen.

Dääh-Üh-däh

Hmprrffmbp

Die Tür geht gleich zu.

Das „Wie“ hat keine Berechtigung in der Innenwelt. In der Seele zählt Genauigkeit.

In Filmen sehen wir auch Menschen aus dem Stand auf eine Mauer springen. Und Wassertropfen langsam über einer glatten glänzenden Hautfläche zögern. Die Kamera des S-Bahn-Waggons ist zu schlecht für den Glanz, Zeit zum Nachbearbeiten bleibt keine, die nächste Entscheidung steht an.

Zu.

Nina könnte verschnaufen. Kriegt aber zuwenig Luft durch die enge Brust. Der BH kann’s heute nicht sein. Der Verzicht auf ihn auch nicht, unter dem Mantel.

Warum muss sie sich über ihr Unterkleid Gedanken machen, um 2 Uhr morgens? Sie will nur heim.

Der Rheinländer hat sich wieder gesetzt, sein Begleiter grummelt ein »Besser is’s’s’, Alter«. Dieser Dennis sitzt nun mit Blick zu Nina. Er starrt sie an, ohne Lächeln, ohne Freude, ohne Freund.

Sie will das nicht. Nina geht am Rheinländer vorbei, zurück zum Vierersitz des Lesers.

Der aufblickt, als sie sich setzt. Er klappt sein Buch zu, fasst in seine Jacke, links innen, hält ihr dann einen Personalausweis hin.

– Nur ein Angebot: Machen Sie eine Foto und schicken Sie’s einer Freundin. Ich begleite sie nach Hause, ein bisschen Spazierengehen schadet nicht.

Nein, das geht nicht. Was ist das, vom Regen in die Traufe? Ein anderes Sprichwort?

– Nein, das geht nicht. Aber danke, echt aufmerksam.

Der Leser zieht seinen Arm zurück, nickt zweimal und steckt den Personalausweis zurück in seine Jacke.

– So blöd ist der nicht, wir kennen seinen Namen, da sind Zeugen, all sowas.

– Sie sind immerhin nicht ausgestiegen.

– Ja. Überreagiert. Unter Zeitdruck vermutlich.

– Vielleicht.

Der Rheinländer steht auf und stellt sich zur Tür. Nina muss ihn nicht sehen, um den neuen Entscheidungsdruck zu spüren. Der Leser schaut über ihre Rücklehne zur Tür. Kurz senkt er den Blick, vermutlich zum Begleiter des Rheinländers, und schüttelt einmal den Kopf.

Gleicht kommt die Sundgauer. Noch ginge es zu Fuß. Nina saugt genervt die Lunge voll vermuffter Luft, stößt sie aus, das Kopfschütteln verdoppelnd. Sie blickt ihren rechten Handschuh an, zupft kurz am Zeigefinger und am Mittelfinger, bevor sie die Augen zum Leser hebt.

– Scheiße kann’s auch sein, wenn er Ihnen nichts tut, sondern nur mitgeht. Von mir hätten Sie den Ausweis.

– Scheiße, so’n Arsch.

Sie senkt die Stimme. Will sie eigentlich nicht. Eigentlich.

– Definitiv.

– Ne, scheiß drauf, ich fahr nach Zehlendorf und nehm dort n Taxi. Oder n Flinkster.

– Scheiße ist auch, betrunken zu fahren. Und immer nachgeben zu müssen.

»Ausstieg. Links.«

Nina ist nicht betrunken. Aber es reicht für 0,8 #sym.permille. Ist das jetzt schon der Moment, wo er zu sehr insistiert? Aber der Leser klappt sein Buch wieder auf. Er wirkt gar nicht – ja, wie eigentlich? Wie wirkte einer, der in der Rückschau zur Traufe geworden sein wird? Wobei hilft er eigentlich? Beim Heimgehen? Nina weiß nicht, wo das Hilfe wäre. Der Leser weiß nicht, wovon er redet, „eigentlich“. Ändert das etwas? An was?

– Ist aber weit.

Traufe f. ‘untere Kante des Daches (mit der Dachrinne), aus der Dachrinne abfließendes Regenwasser’. Der nur im Dt. begegnende a-Stamm ahd. trouf m. n. (um 900), mhd. trouf m. n. ‘das Tröpfeln, das Herabtropfen des Wassers vom Dach, Ort des Tropfenfalls, Dachrand, -rinne’ und der gleichbed. jō-Stamm mhd. trouf(e) f. sind ablautende Bildungen zum Verb triefen.

Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin. 21993. Zitiert nach DWDS.

Er kann noch nicht wirklich wieder gelesen haben. Liest aber noch, während er spricht: »Egal, ich habe nichts mehr vor.«

– Ich will eigentlich bloß heim.

Eigentlich will Nina nicht immer Dinge tun und lassen, die sie eigentlich gar nie tun oder lassen wollte. Eigentlich ist eine Frau anno 2023 in Mitteleuropa nicht in einer Lage, die zu einer Gefahr für den Leib gerinnen dürfte. Eigentlich läuft nachts in Berlin nichts schief. Eigentlich kann sie ungeleitet nach Hause gehn. Eigentlich.

– Na gut.

Erst ändert ihr Einknicken nichts. Auch nicht in Nina. Sie fühlte sich schon an der Tür einknicken. Schon bevor sie zugefahren ist. Objektiv pausiert die Welt nicht, Nina treibt die kurze Pause nach ihrem Sprechakt aber weiter zum Reden. Der S-Zug hält. Sie weiß nichts über den Mann, außer dass er ruhig bleibt und Bücher liest. Eins wenigstens. Es ist zu spät für die Sache mit dem Ausweis.

– Danke.

Der Leser klappt im Aufstehen das Buch zu, steckt es in die Tasche: »Ausweis machen wir am Bahnsteig. On y va.«

– Ja, gut.