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Stomatopoda

In der PDF-Fassung ist das stimmiger und sinniger gesetzt. Lesen Sie am besten die.

Der Novemberwind hat in den zehn Minuten zugelegt, aber neuen Regen bringt er nicht. Der Rheinländer kommt als erster raus und geht direkt zum stadteinwärts führenden Gleis. Vielleicht überlegt er es sich anders?

Nina wickelt ihren dunkelgrauen Schal mit zwei Umdrehungen enger um den Hals. Sie friert hauptsächlich im Schritt und an den Händen. Frauenschicksal. Der Leser steht hinter ihr und orientiert sich auf dem Bahnsteig.

Aus zwei weiteren Waggontüren haben Menschen den S-Zug verlassen. Aus drei, sieht Nina, als sie sich nach links wendet und zwei Schritte in Richtung Treppenaufgang macht, während der Leser noch zögert. Ein junges Paar und ein ZEIT-Leser gehen vor ihm und dann auch an Nina vorbei, die sich umwendet:

– Hier links. Wir müssen runter in die …

– A-a-ah: der Feind hört mit.

(Der Feind?)

Nina dreht sich nicht mit dem Tocker um: (Der Feind. Soso.)

Den kalten Krieg wollte Nina heute Nacht nicht mehr aufwärmen.

(32? 33?)

Der Leser tockt das Kinn kurz in Richtung des Bahnsteigs gegenüber mit Blick nach unten, während er auf seinem Smartphone langsam ein paar Zeichen tippt.

Er entsperrt es anscheinend, im Opa-Modus. Nina dreht sich höflich weg in Richtung Bahnsteig 2.

Der Leser verzieht den Mund.

(Vertippt?)

Er tippt weiter. Nina tippelt drei Schritte zu ihm zurück. Das Telefon ist entsperrt.

(Immerhin.)

– Lassen Sie uns das mit dem Ausweis gleich hier machen. Hier ist sicher noch Zeit. Und Licht.

Weniger grell beleuchtet sieht er jünger aus.

– Ach so. Ich weiß nicht, ob das nötig ist. (… dass du mich nach Hause begleitest …) Bei Lichte betrachtet …

– Dochdoch, sicher ist sicher. Streng genommen sind alle Konditionen vor Antritt einer Reise zu verhandeln. Ist man einmal unterwegs, muss man für Nachverhandlungen erst die große Trägheit von uns Gewohnheitstieren aushebeln.

Über ihre Schulter schaut der Leser in Richtung des Ausgangs, wohin sich der Rheinländer gerade mit Blick über seine Schulter aus dem Bahnhof zögert.

– (?) Du bist auch so schon echt eine Beruhigung für mich. (Ja, doch.) Und irgendwie ist mir das auch peinlich.

– Peinlich sind andere. Hier, fotografieren Sie das.

Der Leser tritt einen halben Schritt auf Nina zu, einen Personalausweis in der ausgestreckten linken Hand zwischen Daumen und Mittel- & Zeigefinger. Zwischen dem Schaft des dunkelbraunen Lederhandschuhs und dem Saum seines Pullovers zeigt der Leser einen blassen Unterarm, eine Aussparung am Schaft gibt ihn frei, anders als Ninas Handschuhe haben die des Lesers keinen Knopf, auch keinen Gummizug. Keine Winterhandschuhe. (Trägt man in Berlin notwendigerweise Winterhandschuhe, wenn man Handschuhe trägt?) Ninas Mutter hat mal behauptet, Handschuhe ohne Bündchen und ohne Gummizug seien nicht als Winterhandschuhe gemacht. Ninas Großmutter hatte dem widersprochen mit ihrer „Kind, lernst du es nie"-Geste, zu ihrer Zeit (»und auch zu deiner, Jule, so jung bist du nicht!«) hätten nur Kinderhandschuhe ein Strick- oder Gummibündchen gehabt. Nina hatte sich auf ihren Kaffee konzentriert. So lange ist das also noch gar nicht her, wenn sie schon Kaffee trinken durfte mit Oma. Die Großelterngeneration ist besessen vom Vermeiden und Sich-Gönnen von Genussmitteln im Alltag.

Nina kichert kurz und zuckt die Schulter mit dem Kopf. (Fremden gegenüber gibt man sich keine Blöße, auch keine gestische. Und ihre Schulter war nicht frei. Zucken andere Menschen immer mit derselben Schulter oder wechseln sie die Schulter nach Verfügbarkeit? Oder zucken andere Menschen mit egal welcher Schulter statt immer nur mit der einundselben? Stoff für eine Kolumne. Absolut.)

In den letzten Monaten rutscht Nina öfter eine kleine Kolumne in die imaginären Finger, wie sie sie während des Studiums für die vielen Magazine der Stadt schreiben wollte. Geschrieben hat: keine wurde je gedruckt.

Sie findet das Telefon in der Tasche und entsperrt es mit zwei diagonalen Fingerbahnen.

Der Leser hat sich nicht abgewendet, sondern die Augenbrauen wieder leicht verengt, den Ausweis noch auf Höhe von Ninas Brustbein.

– Ich lösche es zuhause dann gleich, Herr ääääh- – …

Nicht verschwommen, gut belichtet. Hanne hatte Recht, auch wenn das Gespräch dazu lästig war, das sich um den Wechsel vom iPhone auf ein Android-Gerät über Wochen hingezogen hatte.

Ein Gespräch, mit Pausen zwar, aber immer wieder neu und dasselbe, als habe man gerade erst begonnen. Hanne kann so sein. immerhin nur bei wenigen Themen: ihre Dissertation, ihre Mutter, ihre Ex-Lovers, nun gut, verständlich. Sportartikel. Computer eigentlich nicht, oder andere Geräte. Aber eben Smartphones.

Die Handykamera taugt vielleicht nicht nur für Schnappschüsse, in jedem Fall aber ohne Einschränkungen dafür.

Voll das Nerdbubi, auf dem Foto. Eindeutig ein Landei. Ist Nina in natura gar nicht aufgefallen.

Das jetzt als Kompliment fallen zu lassen, wäre taktlos.

Nina zweifingert die Details des Personalausweises in die höchste Vergrößerungsstufe. Sie hätte näher rangehen sollen.

Der hohe ISO-Faktor tut das seine dazu.

Sie wollte mal Fotografin werden. Als Teenager. Wahrscheinlich deshalb. Was soll das jetzt mit Hanne hier?

– Reicht das Licht?

– … jaja, Herr …… „Markus Herrnwald"! Ich bin übrigens Nina.

– Gut gut, Nina. „Angenehm" … Schicken Sie’s jemandem. Freund oder Freundin, Partner. *In.

Der Leser dreht den Personalausweis in seiner Hand um, ohne die Arme zu bewegen, nur mit den drei Fingern links, und hält ihn jetzt zwischen Zeige- bis Ringfinger, den Daumen abgespreizt, den Handrücken parallel zum Boden, lächelnd den Blick auf seine eigene Hand:

– Hier noch die Adresse, damit die Kriminalpolizei mich leichter ermitteln kann.

Nina scharwenzelt ein paar Zehntelsekunden im „Wenn schon, denn schon" um den Gedanken an ein Rückseitenfotografie herum:

– Nee, echt nicht nötig. Ich fühl mich ganz sicher mit dir.

– Zu fühlen ist daran nicht unbedingt was …

Nina schüttelt den Kopf, in zwei sanften Stößen durch die Nase ausschnaubend. Markus legt den Kopf schief, notmybusinessiert die Lippen:

– Ihre Entscheidung.

Der Leser lächelt noch, den Blick nach innen, als er die ausgestreckte Hand zur Brust zieht. Konzentriert er sich auf das Verstauen des Personalausweises in seine inneren rechten Jackentasche?

– Passt schon, danke.

Herrnwald zieht seinen Kurzmantel an beiden Reversflügeln glatt nach unten, nachdem er den obersten Knopf zugenestelt hat. Das Leder seiner Handschuhe ist dünn, fast geschmeidig, doch ihre leichte Wattierung behindert die Finger. Das Neonlicht am Bahnsteig hüllt einige der abgeschlissenen Stellen des Mantels in photographischen Schatten, restauriert ihn aber nicht völlig. Ein kleines Loch am linken Ärmel stammt vermutlich von einem plötzlichen Einhängen + Aufreißen. Ein zerfasertes Loch, das man nicht zunähen kann, obwohl es gar nicht so groß ist.

– Dann gehn wir mal. Hier links, ja?

– Genau. Die nicht zu nennende Hmhm-Hm-Straße runter und dann stadteinwärts in die Hm-Hmmhm.

– Doch so weit? Das hatten Sie mir verschwiegen!

Des Lesers Augen weitet Entsetzen ob bevorstehender Wandersmühsal, seinen Mund es spitzt. Nina geht unterkühlt darauf ein:

– Von wegen – ich hatte „Sie" gewarnt. Können wir nicht beim ›Du‹ bleiben?

– Dahin wechseln? Klar. Markus.

Herrnwald tritt an Ninas Rechte und hebt sachte den linken Arm auf Höhe ihrer Schulterblätter, ohne Nina zu berühren, die auch so die Geste zum Aufbruch kehlig kichernd erwidert mit einer halben Drehung und einem ersten Schritt zum Ausgang:

– Ich weiß.

– Weißt du auch, wie weit es faktisch ist, Nina?

– Schon ein Stück. Halbe Stunde vielleicht?

– Du wohnst noch nicht lange in Berlin?

– Doch doch, elf Jahre, seit dem Studium. Aber ich messe’s nich aus.

Nina weist den Anspruch auf Genauigkeit im Alltag mit geweiteten Armen von sich. Markus Herrnwald übertreibt Nonchalance in einer Gönnergeste:

– Willst kennen deiner Schritte Tritt Nina lacht einen kurzen und einen langgezogenen Stoß, dann:

– In der Regel steig ich Lichterfelde aus, da ist’s näher.

Herrnwald hält an der offenen Tür zur Halle des kleines Bahnhofs inne:

– Lohnt es, für dieses »Näher« auf die S1 zu warten?

– Ach du scheiße – auf die Idee bin ich gar nicht gekommen!

– Der Typ auch nicht, scheint’s.

Herrnwald tockt wieder sein Kinn an Nina vorbei, die diesmal folgt und den Rheinländer an der Ausgangstür zur Sundgauer Straße stehen sieht, vielleicht 15 Meter entfernt, wie er seinen Blick gerade abwendet und die Tür aufdrückt.

– Der ist ja tatsächlich noch da …

– Du gefällst ihm sehr gut, scheint’s. Dann gehen wir mal zu Fuß los. Wenn wir auf die S1 warten, wartet er am End mit uns, und das Spiel geht von vorne los.

Er hebt den Arm wieder an Ninas Schulterblatt, diesmal mit sacht führender Auflage. Nina schüttelt den Kopf und tritt voraus in die Halle.

– Echt jetzt, was fürn Film schiebt der denn, ey?

Before Sunrise meets Mädchen mit Gewalt.

– Das ist nicht lustig.

Herrnwald zieht gleichgültig taxierend die Mundwinkel nach unten.

– Doch.