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In der PDF-Fassung ist das stimmiger und sinniger gesetzt. Lesen Sie am besten die.

Szene 2 #

Das Licht geht an. Gleichzeitig erhält die Theaterbühne einen schwarzen Rahmen mit einer Stärke von 2,7 % der Leinwand an den vertikalen und 1,9 % an den horizontalen Seiten. Die Szene friert ein, ein großes Pausenzeichen kommt auf der Mitte der Fläche zu stehen: ||.

Lichtreflexe auf einer Glasfläche über der Theaterszenerie.

Die Bühne steht in einem Fernsehbild, der eben gezeigte Film ist pausiert.

Eine hohe männliche Stimme ungefähr in der Lage des ehemaligen BRD-Bundesministers des Auswärtigen Guido Westerwelle ist zu hören im Dialog mit einer etwas tieferen männlichen Stimme, etwa die Lage des Nouvelle-Vague-Regisseurs Jacques Rivette.

Guido Westerwelles Stimme
Puh, ganz schön schräg. Wie befürchtet. Landwirtschaft mit Kinderpersonal, ich weiß nicht recht.

Jacques Rivettes Stimme
Wissen ist schwer zu erreichen. Statistiken reichen immerhin.

Guido Westerwelles Stimme
Sind Sie sicher, dass die Zielgruppe auf sowas anspringt?

Jacques Rivettes Stimme
Nein. Sicherheit ist schwer herzustellen. Statistiken haben wir nicht. Es gilt das Prinzip Hoffnung.

Ein Konferenzraum mit einem ovalen Besprechungstisch und je Tischseite vier Schwingstühlen mit Lederbespannung komplett in Weiß. Die Perspektive auf den Raum ist die Halbtotale. Der Raum ist breiter als tief, ein FullHD-Format ist angemessen. Der Tisch steht vertikal 23 % zur Rechten der horizontalen Achse im Raum. Die rechte Stuhlreihe steht mit dem Rücken fast an der Wand. Die linke Wand des Raums ist nicht sichtbar, hat aber vermutlich Fenster, dem Licht nach zu urteilen. Weiße Wände, schwarzer Kunstfellteppich aus 100% Polyester. An der rechten Wand hängen auf einer Höhe von 1,61 Metern fünf Flachbildschirme Rahmen an Rahmen horizontal nebeneinander, beginnend direkt an der hinteren Wand, jeweils mit einer Bildschirmdiagonalen von 1,44 Metern. Auf einem der vier nach rechts blickenden Stühle sitzt ein Mann mit hellbraunem Haar und beigem Sommeranzug nach der Mode der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Er ist nicht identisch mit Guido Westerwelle, dem ehemaligen BRD-Bundesminister des Auswärtigen, aber die Wählerinnen und Wähler der BRD würden FDP wählen, falls sie aufgrund seines Äußeren wählen müssten, welche Partei der Mann am ehesten zuletzt bei einer Bundes- oder Landtagswahl gewählt hat. Der Winkel ist zu steil, um auf den Flachbildschirmen etwas zu erkennen. Der Mann fragt:

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme
Hoffnung?

Jacques Rivettes Stimme
Vertreterinnen der Zielgruppe sind bereit, ihre Wohn- & Ernährungsgewohnheiten radikal infrage zu stellen. Ohne Hoffnung tut das niemand.

Der Mann hat bislang auf die Tischplatte geschaut, nun hebt er den Kopf zum zweiten Flachbildschirm von links:

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme
Worauf hoffen sie?

Der Flachbildschirm mit Jacques Rivettes Stimme
Das wissen die Vertreterinnen der Zielgruppe vermutlich selbst nicht. Dieses Ungerichtete, Orientierungsarme scheint uns Voraussetzung dafür, einen Riegel aus gepresstem Gras zu essen, während das ungepresste Gras in Gräben an Straßen sprießt.

Guido Westerwelles Stimme
Das reicht nicht. Welche Prinzipien setzen Sie außerdem an?

Der Flachbildschirm mit Jacques Rivettes Stimme
Prinzipiell will der Werbefilm ein wenig das Auratische einer Bühnenvorstellung in den spot holen, das Authentische des Liveauftritts. Das ist Schuberts großes Talent: der Konserve den Fahrtwind des sich verflüchtigenden Jetzt anzuheften. Man muss es zwar usurpieren, aber was muss, das muss.

Guido Westerwelles Stimme
Ja, genau: die Aura! Wäre es nicht auratischer, die Kamerafahrt wegzulassen?

Der Flachbildschirm mit Jacques Rivettes Stimme
Ein alter Streit.

Pause. Nach 17 Sekunden fragt

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme
Streit?

Der Flachbildschirm mit Jacques Rivettes Stimme
Die einen sagen, die Spuren des Machens, des Gemacht-Habens müssten getilgt werden. Auf allen zeitlichen Ebenen. Die anderen schwören auf die reflexive Magie der Male der Arbeit: die Betrachterin sieht die Spuren vom Arbeitsprozess und denkt über den Weg nach, auf dem das Gemachte gemacht wurde.

Eine Frau im Porträt, bleiche Haut, schwarzer Bob: die Kamerafrau aus Szene 1, nun aber in einem taubengrauen Blazer und einer leichten schwarzen Bluse, halbtransparent. An der Brust ist der Blusenstoff verstärkt, ein schwarzer Büstenhalter zeichnet sich zwar ab, aber scheint nicht durch. Sie sitzt an einem Tisch, hinter ihr eine steril vertäfelte Wand aus klarlackiertem Birkenholz mit einer horizontalen Kachelapplikation aus teerschwarzem Kunststoff, im Farbton RAL 9021.

Jacques Rivettes Stimme
Sie wird zwar nicht Künstlerin, aber doch Teilnehmerin. Wir gehören zu diesen „anderen".

Kamerafrau
Man muss ihn schmecken.

Guido Westerwelles Stimme
Schmecken?

Kamerafrau
Man muss den Riegel schmecken. Man schmeckt nur komplett, was man zubereitet sieht. Von seinen eigenen Händen oder den Händen der Nächsten.

Guido Westerwelles Stimme
Ja?

Kamerafrau
In den Malen der Arbeit gerinnt die Zubereitung, so dass die Augen sie atmen, obwohl der Leib in einem anderen Raum sitzt.

Der Hinterkopf des Mannes mit der Stimme von Guido Westerwelle, Perspektive von leicht unterhalb, so dass die drei mittleren der fünf Flachbildschirme an der Wand ihm gegenüber erfasst werden. Auf dem mittleren Flachbildschirm ist Schubert das Schaf mit einer roten Wollmütze ohne Bommel. Die Mütze bedeckt seine Ohren. Sein Oberkörper ist unbekleidet, er lümmelt in einem Aeron von Herman Miller mit petrolgrüner Bespannung und schwarzem Rahmen. Vor Schubert dem Schaf eine kirschhölzerne Schreibtischplatte mit einem ungeöffneten Chräsa-Riegel fast parallel zur Tischkante, 2,7 % Abweichung von der Parallele. Auf dem rechten Flachbildschirm ist die Kamerafrau & Regisseurin zu sehen. Auf dem linken Flachbildschirm ist ein koreanischer Mann im Alter von 57 Jahren mit kahlrasiertem Schädel und einem petrolgrünen, stark glänzenden Sakko aus einem Oberstoff von 75 % Bambusviskose und 25 % Baumwolle über einem anthrazitgrauen, dezent glänzenden T-Shirt aus 100 % gekämmter Baumwolle. Die Zuseherin wäre angesichts des Glanzes des Baumwollstoffs des T-Shirts überrascht von der Hundertprozentigkeit des Baumwollstoffs.

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme
Nun ja, wenn die Regisseurin das sagt.

Schubert (schaut dabei nach rechts)
Nicht nur sie.

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme
Ja-ja: wenn die Regisseurin und der Star das sagen.

Schubert (wendet dabei den Kopf nach oben)
Nicht nur wir.

Der Mann mit Guido Westerwelles Stimme (nickt mehrmals mit Nachdruck und hebt beide Hände in Ergebung)
Ja-ja-jaaa.

Schubert (senkt den Blick auf den Riegel auf seinem Tisch)
Sie werden ihn wollen. Mein Geschmack ist authentisch. Sie schmecken ihn nicht, weil er mir schmeckt, sondern weil ich es ihnen sage:

Der Flachbildschirm mit der Kamerafrau im Porträt. Sie blickt nach rechts. Sie dreht den Kopf, während Schubert das Schaf spricht, langsam über die linke Schulter, zum künftigen Publikum.

Die Stimme von Schubert dem Schaf
Chräsa.

[ Fortsetzung folgt. ]